Wir brachten das Frühstück schnell hinter uns, machten uns fertig für den Tag und verstauten all unser Zeug in die Rucksäcke, da wir am Abend nach London zurückkehren wollten. Emil hatte große Angst etwas zu vergessen und ich musste mit ihm mehrfach alles durchgehen: drei Kuscheltiere, 22 Plastik-Spielfiguren, ein Bällchen, zwei Tore, zwei Bücher: ‚Horrid Henry and the Football Fiend‘ und Kalle Blomquist auf Deutsch. Er war strickt dagegen, die Rucksäcke den Tag über im Bed and Breakfast zu lassen. Ihn vom Gegenteil zu überzeugen, kostete mich einige Nerven. Er vergoss viele Tränen. Aber das war eine Sache, in der ich nicht nachgeben wollte, denn es würde die Qualität des Tages, um so vieles anheben. Die Verhandlungen mit dem Inhaber verliefen dagegen reibungslos. Er war sofort damit einverstanden, dass wir unser Gepäck daließen und überließ uns sogar weiterhin einen Haustürschlüssel, nur für den Fall, dass er später nicht zu Hause wäre.
An diesem Tag blies der Wind nicht ganz so stark und die Sonne schien. Auch wenn es nur ein oder zwei Grad waren, ließ es sich gut in den wärmenden Strahlen laufen. Wir gingen auf der Promenade entlang, bis zu einer Statue von Triton, der ein Schneckenhorn mit herausquellenden Früchten in seinen Armen hielt. Eine Tafel informierte darüber, dass die Statue von John Thomas 1850 gemacht worden war. Absurd war daran nur, dass praktisch die gleiche Skulptur noch einmal auf dem Hauptplatz am Southpier stand, bloß dass dort Triton das Schneckenhorn im anderen Arm hielt. Dies hier war wie eine gespiegelte Kopie - lediglich 200 Meter entfernt. Nach diesem Erlebnis der Verdoppelung, bei der Emil sich auf einer Mauer niedergelassen hatte und versucht hatte Möwen anzulocken, spazierten wir einen Weg entlang bis zur ‚Pakefield Church‘, einer tausend Jahre alten Kirche, die angeblich auf einer anderen Kirche aus dem Jahr 406 errichtet worden war. Sie hatte nach dem zweiten Weltkrieg ein neues Dach bekommen, da das alte durch Bomben zerstört worden war. Sie lag idyllisch, nahe am Meer, umgeben von ein paar Palmen und einem alten Friedhof. Diese Atmosphäre, die natürlich auch schon Sebald gefesselt hatte, ließ uns eine Weile manieristisch zwischen den eingesackten Gräbern herumstreunen, deren Steine völlig schief standen. Leider konnten wir nicht in die Kirche, weil an diesem Morgen eine Spielgruppe für Kinder unter fünf Jahren stattfand, die, und das kannte ich schon aus London, einfach mitten in der Kirche Spielzeug aufgebaut bekommen hatten und darin herumtoben konnten. Gleich hinter der Tür hatten die Mütter eine Kinderwagenbarrikade errichtet und versahen uns durch die quadratischen Fensterchen mit frostigen Blicken.
So gingen wir weiter einen bezaubernden Weg am Meer entlang, vorbei an kleinen Fischernachen und Hüttchen, weiteren, der sich im Wind beugenden Palmen, bis zu einer kleinen Ansammlung von Ferienhäusern und Caravans. Darunter war auch ein alter Eisenbahnwagon mit einem angebauten Wintergarten und einem Signal und ich musste Emil die Geschichte vom fliegenden Klassenzimmer erzählen, die er noch nicht kannte. Aber mir schwirrte eigentlich nur die Filmversion mit Fuchsberger als Dr. Bökh (gen. Justus) im Kopf herum und nicht das Buch, was mich wurmte.
An einem chromoxidgrünen Caravan putzte ein kleiner Mann ein Fenster zum Meer, dahinter saß eine unglaublich dicke Frau auf einem Sofa, das sie in fast voller Breite einnahm und gab lautstark Anweisungen, wo noch Schlieren zu beseitigen seien. Ich erkundigte mich bei ihnen, ob es oben auf der Klippe ein Weg Richtung Kessingland gebe. Der Mann wusste von gar nichts und die Alte keifte, dass wir umkehren und unten am Strand entlang gehen müssten. Die Frage, wie lange es denn bis Kessingland dauern würde, konnten beide nur unzureichend beantworten, sicherlich, weil sie diese Strecke noch nie bewältigt hatten.
Am Meer war es menschenleer. Wir mühten uns durch hohen Kies, in den wir mit jedem Schritt und einem knirschenden Geräusch tief einsanken. Die See auf der linken Seite brauste stahlgrau. Rechts waren zerklüftete Klippen aus ockerfarbener Erde. Auf der Klippe wuchs ein winterlich kahles Gestrüpp, braun, was einen interessanten Kontrast zum Gelb der Erde abgab. Eine Menge Müll hauptsächlich Plastikmüll lag herum, was mich ja schon auf unserem Ausflug nach Norden deprimiert hatte. Auch hier lugten einige Bunker, mit grimmigen Gesichtern über das Meer und ich fragte mich, ob diese Anordnung der Schießscharten als Augen von den Konstrukteuren ein beabsichtigtes Konzept gewesen war.
Nach ungefähr zwei Kilometern weitete sich der Strand, die Kieselsteine wurden kleiner und es gab kleine Inseln mit Dünenvegetation. Emil begann zu maulen, weil das Gehen beschwerlich war und ließ sich bald weit zurückfallen, hockte sich hin und wühlte herum. Ich wartete auf ihn und als er mich eingeholt hatte, ermutigte ich ihn, besondere Steine zu suchen, also von besonderer Form oder Farbe oder abgeschliffenes Glas. Er fand aber fast alle gut und händigte sie mir aus, damit ich sie in meine Parkatasche steckte. Ich traf eine Auswahl und ließ den Rest heimlich wieder fallen. Große Brocken diskutierte ich. Als eine Holztreppe auftauchte, stiegen wir die Stufen hinauf. Von oben konnten wir sehen, dass Kessingland gar nicht mehr weit weg war und wir folgten einem Pfad. Er führte über Felder um einen Bauernhof herum, dessen Bewohner wohl etwas dagegen hatten, wenn Touristen vor ihrer Nase vorbeistiefelten. Ist es eigentlich richtig, dass es Leute gibt, die einen alleinigen Zugang zum Wasser oder zum Blick auf das Wasser (egal ob Fluss, See oder Meer) haben? Sollte nicht ein Streifen von mindestens 100 Metern weltweit unverkäufliches Allgemeingut sein? Verboten gehörten auch alle Straßen an der Küste entlang und natürlich (kostenpflichtige) Parkplätze mit Blick aufs Meer. In einem Miniwaldstück kurz vor Kessingland trafen wir auf eine Gruppe Rehe, die verdaddert und wie angewurzelt stehen blieben und uns beäugten.
In Kessingland führte ein Weg wieder hinunter auf eine Betonpromenade. Als wir einige Häuser sahen, versprach ich Emil, dass es sich um einen Pub handele und er ging wieder etwas flotter. Zum Glück war es tatsächlich ein Pub mit dem Namen ‚Sailors Home‘. Und, was sich wirklich bestens fügte, davor war eine Bus-Endhaltestelle, von der aus eine Buslinie Lowestoft bediente. Ein Fahrer saß auf einem Picknicktisch und stierte rauchend auf das Wasser. Der Bus fuhr auch nur jede Stunde oder so. So konnte man sich das Leben als Busfahrer gefallen lassen.
Wir setzten uns ans Fenster in den ‚Sailors Home‘ Pub und bestellten eine Portion ‚Wedges‘ (ungepellte, gebackene Kartoffelstücken) und ich mir ein Pint ‚Adnams‘, das ich am Vorabend so sehr vermisst hatte. Es schmeckte vorzüglich und während wir auf das Essen warteten, sortierten wir die Steine und legten kleine Mosaiken auf Papierservietten, die wir anschließend fotografierten.
Nachdem wir uns mit der wirklich riesigen Portion dieser fetttriefenden Kartoffelstücken gestärkt hatten, suchten wir uns einen geeigneten Bus aus dem Fahrplan heraus und trotteten noch mal nach vorne ans Meer. Emil zog seine Schuhe aus und rannte ganz vergnügt in Socken über die Steine. Mit der russischen Schapka auf dem Kopf, wirkte das natürlich witzig und wir hatten viel Spaß dabei, uns von Kieshügeln Richtung Wellen hinunterzuschubsen.
Der Bus fuhr durch das Dorfzentrum Kessinglands. Einen Kommentar über das Dorf als historische Heringsstadt werde ich mir schenken, da Sebalds Aufarbeitung der Geschichte des Heringsfangs in dieser Gegend eh grandios ist.
Wir waren frühzeitig wieder in Lowestoft und holten unsere Rucksäcke ab. Tatsächlich war niemand im Bed and Breakfast und wir hätten das ganze Haus ausräumen können.
Um die Sache mit dem Abendessen frühzeitig zu erledigen, gingen wir in ein ‚Fisch and Chips‘- Restaurant mit dem reizenden Namen ‚Nemo‘. Es war mehr so ein Imbiss in einem schreienden Violett mit weißen Streifen gehalten und auch dieses Essen war wieder nicht so überzeugend. Da verstand ich ja die Welt nicht mehr, wo wir doch sonst überall an den Küsten Englands in Devon, Cornwall, Norfolk, etc. hervorragende ‚Fisch and Chips‘ gegessen hatten, ließ hier in Lowestoft die Qualität arg zu wünschen übrig.
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