„Ja, er war mit einigen Freunden hingezogen. Sie haben es Alchera genannt. Ich muss ja sagen, unter einem Dorf stelle ich mir was anderes vor, wenigstens einen Laden oder eine Kneipe, oder? Dieses war doch nur ein riesiger Bauernhof mit fünf oder sechs vereinzelt stehenden Gebäuden und ein paar Scheunen. Alles reichlich verfallen und die Bewohner der umliegenden Dörfer waren auch eher feindselig gesinnt. Aber als mein Kumpel und ich dort verkatert aufwachten, hatten wir eh unser Schiff verpasst. So sind wir eine Weile geblieben und haben geholfen. Es waren alles Künstler, von überall aus Europa. Sie hatten vor, einen Ort zu schaffen, an dem sie ernsthaft arbeiten konnten.“
Hintereinander stolperten drei Frauen zur Tür herein. Eine kleine, dickliche, die sich betrunken von Stuhllehne zu Stuhllehne hangelte, eine große, die ihre Stöckelschuhe am Riemen in einer Hand hielt, einen ultrakurzen Rock mit der anderen Hand nach unten zog und barfuß über die Dielen watschelte und eine Rothaarige, die oben herum nur so etwas wie einen BH trug und sonst eine hautenge Jeansshorts, aus der ihre Schenkel hervorquollen. Sie wurden gefolgt von einem Mann, der sich als Taxifahrer entpuppte und den der Gigolo bezahlen musste. Gleich danach kaufte der Gigolo für alle fünf Frauen, die sich nun lautstark begrüßten und austauschten, ‚Jägerbomb‘. George stellte dazu sechs Gläser mit Red Bull und ein leeres nebeneinander auf. Auf die oberen Glasränder stellte er kleine Gläser gefüllt mit Jägermeister. Die Frauen und der Mann versenkten das Gläschen mit dem Likör in das Aufputschgetränk, kippten die Mixtur auf ex hinunter und stampften die leeren Gläser scheppernd auf den Tresen. Anschließend spielten sie halbherzig Billard und verschwanden laufend auf die Damentoilette, mal mit dem Gigolo, mal mit einer Freundin, mal alleine. George erzählte weiter:
„Manche Leute des Dorfes arbeiteten intensiv an ihrer Kunst. Ich meine, ich verstehe ja davon nichts, aber manches sah ganz brauchbar aus. In enthusiastischen Meetings diskutierten sie und wollten eine neue Kunstströmung ins Leben rufen. Sie glaubten an die Idee, ihre kreative Energie bündeln zu können. Andere wiederum ließen sich völlig gehen und machten überhaupt nichts. Mit der Zeit hausten einige wie Eingeborene. Das war mir zu abgedreht und erinnerte mich zu sehr an die Hippiedörfer, wie es sie in den Achtzigern am Mittelmeer, überall wo das Land aufhörte, gegeben hat. Das war irgendwie traurig mit anzusehen“, sagte er. Mit einem Nicken forderte er die Frau ohne Schuhe auf, ihren Bestellungswunsch loszuwerden. Sie bestellte umständlich Apfelwodkas und lehnte sich dabei ein klein wenig nach vorne und ihr wirklich zu kleiner Stretch-Rock rutschte über ihr Hinterteil nach oben. Schockiert stellte ich fest, dass sie darunter überhaupt nichts anhatte. Ihre Vagina hing wie ein rosafarbener Teil eines Zierkürbisses zwischen ihren Beinen. Schnell blickte ich zu Emil, der aber zum Glück ein neues Tor von Chelsea feierte. Der Gigolo bemerkte nun auch, was los war und stellte sich hinter sie. Dabei versuchte er den Rock nach unten zu ziehen. Sie kreischte und wehrte sich gespielt, aber dieses Gummi durchzogene Kleidungsstück schnellte sowieso immer wieder hoch. Schließlich forderte er sie ernsthaft auf es festzuhalten, was sie dann auch kurz mal machte. George schüttete unterdessen eine schrillgrün leuchtende Flüssigkeit, mit einem geeichten Metallbecherchen die Menge abmessend, in Wassergläser um. Die anderen Frauen kamen an die Theke getorkelt und gemeinsam stürzten sie auch dieses Getränk ihre Kehlen hinab. Zu allem Überfluss hantierte die betrunkene, kleine Frau nun auch noch mit einem komischen Minidildo herum, den sie, wie sie lautstark verkündete, für fünf Pfund aus einem Automaten auf der Toilette gezogen habe. Etwas mulmig zumute las ich auf den Bildschirmen ab, wie lange die Spiele denn noch gingen. Sie befanden sich zum Glück alle in den Nachspielzeiten. Emil bestand aber darauf, auch noch die Resultate aufschreiben zu wollen. Ich sagte zu ihm, dass er mal wieder kein Ende finden könne und er sich gefälligst beeilen müsse und händigte ihm seine Mappe mit seinen Malblättern aus. Er malte darauf seelenruhig mit einem schwarzen Filzstift: Chelsea gegen Rubin Kazan 3:1 (Halbzeitergebnis 2:1), Tottenham Hotspur gegen FC Basel 2:2 (Halbzeitergebnis 1:2), SL Benfica gegen Newcastle United 3:1 (Halbzeitergebnis 1:1) und das Ergebnis des vierten Spiels, das eingeblendet worden war: Fenerbahçe gegen Lazio Roma 2:0 (Halbzeitergebnis 0:0).
„Wer kommt denn nun weiter?“ erkundigte ich mich ungeduldig und auf Englisch um George nicht von dem Gespräch auszuschließen.
„Das war doch erst das Hinspiel“, sagte Emil vorwurfsvoll. Entgeistert sah ich ihn an und George lachte ein dreckiges Boxerlachen. „Es kann doch nicht sein, dass all diese Spiele noch einmal in einer Rückrunde gespielt werden müssen!“ rief ich. Eine der Frauen hatte derweil umständlich ihre zehn Zentimeter hohen Stöckelschuhe angezogen und, sich gegenseitig abstützend, verließen die Sechs unvermittelt das Lokal.
„Jetzt ist aber wirklich Schluss“, fuhr ich Emil verärgert an, denn es konnte doch nicht angehen, dass wir länger als diese Trink-Gesellschaft in einer Kneipe waren. Das hatte sehr rigoros in die entstandene Stille geklungen und Emil händigte mir, „Naa guut“ knurrend, seinen Malblock aus.
„Ich heiß‘ übrigens Peter, war nett dich kennenzulernen“, sagte ich zu George und Emil raffte sich zu einem langgezogenen „Bye“ auf.
„Ja“, sagte George auf Deutsch mit einem starken, englischen Akzent, „schön Urlaub.“
Ich wickelte Emil wieder in seine Klamottenschichten ein, setzte ihm die Schapka auf und puffte ihn zur Tür raus. Wieder einmal peitschte uns Schnee waagerecht ins Gesicht und wir kämpften dagegen an. In der Nähe der Promenade auf der Rückseite eines Hotels beim ‚Hush Hush‘ - Club wurde klar, was den Gigolo und die Frauen motiviert hatte. Bestimmt zweihundert nahezu nackter Jugendlicher warteten vor der Tür aufgereiht, zitternd und so durchgefroren, dass man selbst in dem fahlen Licht des Clubs das Blau ihrer Haut erkennen konnte, auf Einlass. Ein Feuerschlucker unterhielt die Clubgänger mit Feuerfontänen, hatte aber große Schwierigkeiten den Feuerstrahl in den extremen Windverhältnissen zu kontrollieren.
1 Dritter Tag (Freitag, der 5. April)
Am frühen Morgen kroch Emil auf dem Teppich herum und schob Plastik-Fußballfiguren hin und her, die er sich aus London mitgebracht hatte. Als der kleine Ball unter das Bett rollte, sollte ich ihn wieder hervorholen. Ich blökte ihn an. Aber damit war es mit dem Schlaf vorbei, denn er wälzte sich heulend auf dem ekligen Teppich hin und her, bis ich es endlich täte. Ich entschied, dass es sich nicht lohnte zu kämpfen und fischte den Ball unter dem Bett hervor und gab ihm ihn schimpfend zurück. Er zog einen Flunsch und spielte weiter. Eine halbe Stunde später, bei einer Zeichentrickserie, irgendeine dünn gestrickte Weltallgeschichte mit Strahlenpistolen und Aliens, zogen wir uns an. Dann warteten wir noch weitere zehn Minuten bis um acht, da ich nicht zu früh zum Frühstück erscheinen wollte, denn ich wollte mir nicht den Unmut des Inhabers zuziehen. Also glotzten wir weiter den Schwachsinn. In der ersten Sekunde einer Reklame gingen wir dann doch hinunter. Die Furcht zu früh zu sein, war völlig unberechtigt gewesen, im Gegenteil, es schien, als hätte der Hausherr den Leuten unterschiedliche Frühstückszeiten angegeben, denn gerade verließ ein Mann fertig gegessen seinen Tisch und ging die Treppe hinauf, um nun wahrscheinlich das Badezimmer zu überschwemmen. Ein anderes Pärchen bezahlte und schleppte Koffer zum Auto auf dem Parkplatz gegenüber. An dem einzig schönen Tisch des Frühstückszimmers vor der Scheibe zum Meer, also unserem Tisch, denn schließlich hatten wir ihn am Morgen zuvor präokkupiert, saßen zwei Frauen in dicken Socken und sonst nur mit Altmännerpyjamas bekleidet. Wir setzten uns an einen der mickrigen Tische an der Wand. Um hinauszusehen, musste ich an den beiden Frauen vorbeisehen. Sie unterhielten sich in der Taubstummensprache und die eine hatte unter dem Tisch ihre Füße auf den Schoß der anderen gelegt, die diese, wenn sie gerade nichts mit den Händen sagte, massierte. In dieser etwas befremdlichen Atmosphäre kam der Wirt, fragte, was wir essen wollten und brachte mir Tee und Emil heißes Wasser in den ich, weil die Pension darüber nicht verfügte, wie am Vortag, einen von mir mitgebrachten Pfefferminzteebeutel hineinsinken ließ. Erst jetzt realisierte ich, dass die Holzvertäfelung, die bis zur Hälfte an der Wand angebracht war, frisch hellblau übergestrichen war, was der Hauswirt als wir in Southwold gewesen waren, gemacht haben musste. Ich schnupperte, aber nur ein winziger Hauch Farbgeruch war zu vernehmen. Über den Sockel hatte er blasse Aquarelle, die Dünen- oder Meermotive zeigten, in geweißelten Rähmchen aufgehängt. Ein Heizlüfter unterstützte den Heizkörper, der mit dem Durchzug durch das Schiebefenster überfordert war. Warm war es trotzdem nicht.
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