„Vielleicht kann deine Mutter mir morgen etwas vom Schlachter mitbringen?“
„Ich werde es ihr sagen.“
„Meine Tochter kommt zu Besuch. Sie hat ja zwei kleine Kinder. Kinder haben immer großen Appetit. Ein Flaschen Limonade brauche ich auch.“
„Ja, sage ich ihr.“
„Bist ein guter Junge“, meint die alte Frau und wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu.
Rudolf beeilt sich ins Haus zu kommen. Ehe ihn die Frau noch einmal aufhält. Wenn sie erst anfängt von ihren Enkeln zu erzählen… Mein Gott!
Er öffnet den Kühlschrank. Auch nicht gerade die Welt, was da drin war. Zwei angefangen Würste, eine davon auch noch Leberwurst. Er verabscheute Leberwurst schon immer. Warum seine Mutter sie immer wieder einholte, blieb ein unlösbares Rätsel. Wie oft sagt er: „Nah ja, egal.“ Die halbe Flasche Milch nimmt er mit hinauf in sein Zimmer.
So ganz ist das mit den Kopfschmerzen nicht gelogen. Rudolf legt sich auf sein Bett.
Es ist so still in der Wohnung dieses Reihenhauses. Rudolf würde nie in eine Großstadt ziehen. Gestank, Lärm, die hohlen Menschen, die dort leben. Nur immer zwischen Arbeit und Haus sein. Das ist doch kein Leben? Leben muss auch noch was Anderes sein. Diese Berichte im Fernsehen, von den Arbeitslosen, von allen die nicht wissen, wie sie den nächsten Tag bestreiten sollen. Leben heute, heißt doch: konsumieren, oder kaputt gehen.
Wenn in der Schule die Politik dran ist, muss Rudolf traurig lachen.
Das Wort, Sozial, das war ein Witz. Wie kann eine Demokratie, sozial sein? Da passt etwas nicht. Menschen sind nur beschränkt soziale Wesen. So viel steht schon mal fest. In der Steinzeit wurden die Kranken und Alten von der ganzen Sippe durchgebracht, ohne darüber nachzudenken, dass sie nichts mehr für die Gemeinschaft leisten konnten. Es war eine Selbstverständlichkeit, für sie zu sorgen.
Das konnte man sozial nennen. Wer heute keine Rente bekommt, oder nur ganz wenig, weil er vielleicht keinen guten Job in seinem Leben verrichten konnte… Menschen sind nicht alle gleich. Jeder kann nicht das, was ein Anderer kann. Gehirne funktionieren nicht gleich. Der eine lernt leicht, der andere niemals.
Nieten werden fallen gelassen. Nieten sind nur halbe Menschen, oder gar keine. Eine Belastung für die Gesellschaft… Sozial…
Rudolf reibt sich die Stirn. Er will jetzt nicht mehr denken. Warum muss er immer denken?
Er ist müde, schließ seine Augen, versucht nicht zu denken, nicht mehr denken… nicht mehr denken… nicht mehr…
Irgendwann nickt er ein.
Ein Traum. Wieder solch ein Traum. Es fühlt sich so gut an, wenn man im positiven Mittelpunkt steht, wenn man als Held angesehen, wenn man bewundert, wenn man, ganz einfach, geachtet wird. Rudolf stellt sich oft vor, dass er ein Held ist. Ein Held wie James Bond, wie in den Filmen mit Arnold Schwarzenegger, oder Sylvester Stallone. Oder, wie ein normaler Mensch, der in Gefahr zu einem Superhelden wird. Rudolf träumte oft, dass er Rosi aus einer großen Gefahr rettet. So wie jetzt. Er sieht Rosi von einer einstürzenden Brücke fallen. Er sieht es ganz genau, sieht ihren angstvollen, panischen Gesichtsausdruck, den weit um Hilfe rufenden, geöffneten Mund, hört den furchtbaren Schrei. Es durchfährt ihn regelrecht, dass er auf dem Bett zusammenzuckt.
Rosi fuchtelt wild mit den Armen in der Luft, ehe sie auf dem Wasser aufschlägt. Rudolf vernimmt das klatschende Wasser, spürt nahezu die Kälte des Wasser, welches Rosi umschließt. Er merkt, wie das Wasser Rosi immer tiefer hinab ziehen will. Jetzt stürmt er in einer affenartigen Schnelligkeit auf das Ufer des Flusses zu. Selbst verspürt er keinerlei Furcht, vor der reißenden Strömung. Er ist ein Held und weiß es. Das ist ein gutes Gefühl. Ein, im Traum, wahres Gefühl.
Er teilt das Wasser mit seinen starken Armen. Die Strömung des Flusses wird kaum bemerkt. Rosi sieht ihn… Rosi geht unter… Rosi taucht auf… Rosi schreit und schon ist er bei ihr.
Gibt es ein größeres Gefühl, als die selige Ruhe nach einer vollbrachten Tat? Rudolfs Traum endet an dieser Stelle. Allein die Genugtuung, seine Liebste gerettet zu haben, macht ihn groß, unverletzbar für andere… ein Held.
Die Haustür klappt zu und eine leichte Frauenstimme ruft sogleich fröhlich:
„Rudolf? Ich bin da! Oh Junge! Mach doch die Musik leiser! Bitte! Die Nachbarn gucken schon immer so mürrisch, wenn man sie mal sieht! Nicht, dass mich das besonders interessiert! Nur, das Leben ist schon schwierig genug!“
Die Frau stellt eine Tasche ab und seufzt auf, als die Musik leiser wird.
„Danke, für die Musik! Aber nicht Danke dafür, dass du den Mülleimer nicht herein geholt hast! Rudolf, hörst du mich? Ich muss wohl wirklich alles alleine machen?“
Rudolf muss erst zu sich kommen. Wie lange war er weggetreten? Ist es schon so spät? Der Traum will nachwirken, kann es aber nicht. Mutters Stimme holt ihn schmerzhaft in die Wirklichkeit zurück.
Er hasst sie einen Moment lang dafür.
„Hallo! Rudolf! Hast du mich gehört? Ich sagte…“
Mühsam freundlich, ruft er schuldbewusst zu ihr hinunter:
„Habe ich vergessen! Entschuldige! Mache ich dann gleich noch!“
„Eh` du soweit kommst… Wenn alle immer so langsam wären wie du, würde sich vermutlich nicht viel auf der Erde tun, oder? Brauchst dich nicht mehr bemühen. Ich habe ihn schon raus gestellt!“
„Danke!“
„Das wollte ich dir auch noch sagen! Wenn du das nächste Mal den gelben Sack raus stellst, achte darauf, dass er kein Loch am unteren Ende bekommt! Ja? Letztes Mal musste ich fast den ganzen Mist von der Straße aufsammeln! Okay? Essen in einer halben Stunde! Sei pünktlich! Sonst esse ich allein!“
„Wieder Nudeln?“
Die Mutter antwortet jetzt leicht gereizt:
„Soll ich mich jetzt noch hinstellen und dem jungen Herrn eine Gans braten? Ich habe schließlich hart gearbeitet. Lerne du das kochen und wir können mal etwas anderes essen!“
Er meint es ganz ernst, als er ruft:
„Männer kochen nicht! Mutter!“
Die Mutter muss zwangsweise lachen.
„Männer vielleicht nicht! He? Du musst erst mal einer werden! Kannst dich damit ein bisschen beeilen! Außerdem gibt es Männer, die besser als Frauen kochen! Hör mal! Du hast lange nichts von der Schule erzählt! Wie es läuft musst du mir nachher erzählen! Kommst du mit den anderen Schülern jetzt besser zurecht?“
„Mutter? Für mich brauchst du nichts kochen! Habe keinen Hunger! Habe vorhin ein Stück Brot gegessen. Ich gehe gleich noch mal weg! Ich war nicht im Gymnasium! Vor der Schultür spürte ich schon wie mein Kopf weh tat. Ich bin nach Hause, und habe fast den Tag über im Bett gelegen! Geht erst seit einer Stunde wieder besser.“
Rudolf schaltet die Musik ganz ab. Er läuft die Treppe hinunter, spricht dabei atemlos:
„Mutter. Ich will…“
„Ich weiß, was du willst. Du gehst bitte nicht zu diesen Möchtegern -Neonazis. Ja? Das ist kein Umgang für einen jungen Mann, der einmal studieren will. Diese Nazi-Bilder in deinem Zimmer solltest du auch ab nehmen. Ich verstehe dich so wie so nicht! Du bist doch gegen die Gewalt. Was wetterst du immer gegen die Bundeswehreinsätze im Ausland! Überhaupt gegen die Bundeswehr. Sagst immer, die Soldaten sind Kinder die Krieg spielen. Und, wie war das andere? Der Krieg gegen den Terrorismus kann man nicht mit Soldaten und Bomben führen?“
„Stimmt genau! Das sehe ich immer noch so. Die Bilder gelten mir als Abschreckung. Das habe ich dir schon ein paar Mal erklärt. Vielleicht solltest du auch mir mal zuhören. Diesen Bin Laden… Man kann einen Wolf nicht mit einer Bombe jagen. Der Wolf entkommt immer. Nur die Umgebung rings herum hat darunter zu leiden.“
„Ach Rudolf, ja. Ich sehe das allerdings nicht so. Wenn wir von einem Feind angegriffen werden, können wir uns wenigstens verteidigen. Ein Land ist wehrlos ohne Soldaten. Das müsstest du eigentlich selbst wissen. Nur, neue Neonazis wollen wir wohl alle nicht. Reicht, wenn dein Vater immer diese Anwandlungen bekommen hat! Na ja, muss wohl in der Familie liegen. Dein Opa war ein guter Soldat, aber kein Nazi. Sagte er jedenfalls. Deinen Vater haben sie nicht eingezogen. Der hat sich immer solche Hefte besorgt, wer weiß woher. Heute bekommt man ja alles unter der Hand. Er meinte ja immer, wenn den Deutschen Deutschland noch gehören würde, wäre auch für ihn Arbeit genug da. Dein Vater begreift nicht, dass sich die Welt weiter dreht. Heute muss man eben ein bisschen mehr können, als nur die Straße fegen. Rudolf, bitte. Lass die Finger von diesen Menschen. Du willst…“
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