Die beiden Gestalten, denen sie folgten, krochen wie schwarze Fliegen über den mächtigen, grünen Umriß des Hügels. Sie waren sichtlich in ein Gespräch vertieft und möglicherweise achteten sie gar nicht darauf, wohin sie gingen; sicherlich aber schritten sie den verwilderteren und stilleren Höhen der Heide zu. Als die Verfolger näherkamen, mußte Valentin sich zusammenkauern wie ein Indianer, sich hinter Baumgruppen decken und selbst lang ausgestreckt im tiefen Grase kriechen. Mittels dieser ungewöhnlichen Finten kamen die Jäger ihrem Wilde nahe genug, um das Gemurmel der Unterhaltung zu vernehmen, doch ließ sich nichts unterscheiden als das Wort »Vernunft«, das oft in einer hohen und beinahe kindlichen Stimme wiederkehrte. Einmal hinter einem steilen Abhange verloren die Verfolger wirklich die beiden Gestalten, denen sie folgten. Zehn angstvolle Minuten hindurch fanden sie die Spur nicht wieder und dann führte sie um einen Vorsprung eines großen, kuppelartigen Hügels, von dem man ein Amphitheater reicher und einsamer Sonnenuntergang-Szenerie überblickte. Unter einem Baume auf diesem beherrschenden, jedoch vernachlässigten Platze stand eine alte, baufällige Bank und auf dieser Bank saßen die zwei Priester immer noch in ernstem Gespräch. Das prächtige Grün und Gold hing noch am dunklen Horizonte, aber die Kuppel darüber ging langsam aus Pfauengrün in Pfauenblau über und die Sterne traten mehr und mehr als wirkliche Diamanten hervor. Stumm sich gegen seine Begleiter wendend gelang es Valentin, sich hinter dem großen ästereichen Baume hinaufzuschleichen, und in tödlichem Schweigen dort stehend vernahm er zum ersten Male die Worte der sonderbaren Priester.
Ein teuflischer Zweifel erfaßte ihn, nachdem er anderthalb Minuten gelauscht hatte. Vielleicht hatte er doch die zwei englischen Polizisten in die Einöde einer nächtlichen Heide zu einem Gange mitgeschleppt, der nicht vernünftiger war, als wollte man Feigen auf den Disteln suchen. Denn die zwei Priester sprachen genau wie zwei Priester, fromm, gelehrt und gelassen über die luftigsten Rätsel der Theologie. Der kleine Priester aus Essex, mit seinem runden Gesichte zu den erstarkenden Sternen gewendet, sprach einfacher; der andere hingegen sprach mit gebeugtem Kopfe, als wäre er nicht einmal wert, zu ihnen aufzublicken. Aber man hätte sich keine unschuldigere geistliche Unterhaltung denken können, weder in einem weißen italienischen Kloster noch in einer schwarzen spanischen Kathedrale.
Das erste, was er auffing, war der Schluß eines von Father Browns Sätzen »... was man im Mittelalter wirklich unter den ›unbestechbaren Himmeln‹ verstand«.
Der größere Priester nickte mit dem gebeugten Klopfe und sagte:
»Ah, ja, diese modernen Ungläubigen appellieren an ihre Vernunft, aber wer kann all diese Millionen von Welten anblicken, ohne das Gefühl zu haben, daß es ganz gut noch wunderbarere Welten über uns gebe, wo die Vernunft etwas überaus Unvernünftiges ist?«
»Nein,« entgegnete der andere Priester, »Vernunft ist immer vernünftig, selbst in der letzten Vorhölle, im verlassenen Randgebiete der Dinge. Ich weiß, man wirft der Kirche vor, sie erniedrige die Vernunft, aber genau das Gegenteil trifft zu. Die Kirche allein auf Erden erhebt die Vernunft wirklich auf ihren Gipfel. Die Kirche allein auf Erden hält daran fest, daß Gott selbst an die Vernunft gebunden ist.«
Der andere Priester erhob sein strenges Gesicht zum flimmernden Himmel und meinte:
»Und dennoch, wer weiß, ob nicht in jenem unendlichen Universum –?«
»Nur physisch unendlich,« erwiderte der kleine Priester, rasch sich zur Seite wendend, »nicht unendlich in dem Sinne, daß es sich den Gesetzen der Wahrheit entzöge.«
Valentin hinter seinem Baume zerrte in stummer Wut an seinen Fingernägeln. In seinen Ohren klang schon das Gekicher der englischen Geheimpolizisten, die er auf eine phantastische Vermutung hin soweit mitgejagt hatte, nur um dem metaphysischen Geplauder zweier sanfter, alter Geistlichen zu lauschen. In seiner Ungeduld entging ihm die ebenso überlegte Antwort des großen Priesters, und als er wieder hinhörte, war es nochmals Father Brown, der sprach.
»Vernunft und Gerechtigkeit umfassen die fernsten und einsamsten Steine. Blicken Sie auf diese Steine. Sehen sie nicht aus, als wären sie ein jeder ein Diamant oder Saphir? Gut, Sie können sich jede tolle Botanik oder Geologie, die Sie wollen, vorstellen. Denken Sie an Wälder von Diamant und mit Blättern von Brillanten. Denken Sie, der Mond sei ein blauer Mond, ein einziger, riesiger Saphir. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß all diese wahnsinnige Astronomie auch nur den kleinsten Unterschied für die Vernunft und Gerechtigkeit unseres Tuns ausmachen würde. Auf Ebenen von Opal und unter aus Perlen geschnittenen Klippen würden sie immer noch eine Warnungstafel finden: Du sollst nicht stehlen.«
Valentin war eben im Begriffe, sich aus seiner steifen und kauernden Lage zu erheben und so leise wie möglich wegzukriechen, ergrimmt über diese eine große Torheit seines Lebens. Aber etwas in dem Schweigen des großen Priesters selbst ließ ihn noch warten, bis dieser sprach. Und als er endlich sprach, sagte er einfach, den Kopf gebeugt und die Hände auf den Knien:
»Well, ich glaube nach wie vor, daß andere Welten vielleicht noch über unsere Vernunft hinausragen. Das Geheimnis des Himmels ist unergründlich und ich für mich kann nur mein Haupt beugen.«
Dann, immer noch mit gesenkter Stirne und ohne im mindesten Haltung oder Stimme zu verändern, fügte er hinzu:
»Geben Sie mir nur Ihr Saphirkreuz herüber, ja? wir sind hier ganz allein und ich könnte Sie niederschlagen wie eine Strohpuppe.«
Die völlig unveränderte Stimme und Haltung verliehen der unerwarteten Wendung des Gespräches etwas eigenartig Gewalttätiges. Aber der Hüter der Reliquie wandte nur den Kopf um ein winziges. Er schien noch immer ein etwas albernes Gesicht den Sternen zuzuwenden. Vielleicht hatte er nicht begriffen. Oder vielleicht auch hatte er begriffen und saß nun starr vor Schrecken.
»Ja,« sagte der große Priester mit derselben leisen Stimme und immer noch derselben Haltung, »ja, ich bin Flambeau.« Dann nach einer Pause fügte er hinzu: »Nun also, wollen Sie mir das Kreuz herübergeben?«
»Nein,« erwiderte der andere und das Wort hatte einen eigenartigen Klang. Flambeau ließ plötzlich seine ganze priesterliche Maske fallen. Der große Räuber lehnte sich auf seinem Sitze zurück und lachte leise, aber lange.
»Nein,« rief er, »Sie wollen es mir nicht geben, Sie kleiner zölibatärer Einfaltspinsel? Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie es mir nicht geben werden? Weil ich es schon in meiner Brusttasche habe.«
Der kleine Mann aus Essex wandte im Dämmerlichte sein wie es schien verdutztes Gesicht und meinte mit furchtsamer Neugierde:
»Sind – sind Sie sicher?«
Flambeau krähte vor Vergnügen.
»Wirklich, Sie sind so gut wie eine Dreiakter-Komödie,« rief er aus. »Ja, du Kohlkopf, ich bin ganz sicher. Ich hatte die Idee, von dem richtigen Paket ein Duplikat zu machen, und jetzt, mein Freund, haben Sie das Duplikat und ich die Juwelen. Ein alter Kniff, Father Brown. ein sehr alter Kniff.«
»Ja,« sagte Father Brown und fuhr immer noch mit derselben eigentümlichen, unbestimmten Weise sich mit der Hand durchs Haar.
»Ja, ich habe davon gehört.«
Der Verbrecher beugte sich mit einer Art plötzlich erwachten Interesses nach dem kleinen Landgeistlichen hinüber.
»Sie haben davon gehört?« fragte er. »wo haben Sie davon gehört?«
»Well, ich darf Ihnen natürlich seinen Namen nicht nennen,« sagte der kleine Mann einfach. »Er war ein Beichtkind, Sie verstehen. Er hatte mit Erfolg an die zwanzig Jahre allein von Duplikaten brauner Papierpakete gelebt. Und als ich anfing, Verdacht zu schöpfen, dachte ich daran, wie es der arme Bursche gemacht hatte, und machte es gleich nach.«
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