Johnson führte Ella in das Hauptbüro hinunter. Ray war noch nicht gekommen.
»Die Wahrheit ist«, gestand Johnson, als sie ihn mit Fragen bedrängte, »daß Ray heute überhaupt noch nicht im Büro war. Er ließ sagen, daß er sich nicht sehr wohl fühlt, und ich habe es so eingerichtet, daß er heute als frei gilt.«
»Er ist doch nicht krank?« fragte sie beunruhigt.
»Nein, ich habe ihn telefonisch gesprochen. Er hat ein Telefon in seiner neuen Wohnung.«
»Ich dachte, es wäre nur ein einfaches Zimmer?« sagte Ella entsetzt. Die gute Hausfrau in ihr empörte sich. »Eine ganze Wohnung? Wo denn?«
»In Knightsbridge«, antwortete Johnson ruhig. »Ja, es klingt teuer, aber ich glaube, daß er sie billig bekommen hat. Ein Mann, der ins Ausland ging, hat sie ihm für einen Pappenstiel untervermietet. – Darf ich offen sein, Fräulein Bennett?«
»Ist es Rays wegen, so bitte ich darum«, antwortete sie hastig.
»Ray beunruhigt mich in letzter Zeit«, sagte Johnson. »Natürlich möchte ich alles, was ich kann, für ihn tun, denn ich habe ihn sehr gern. Jetzt ist es meine einzige Sorge, seine ziemlich häufige Abwesenheit vom Büro zu verschleiern. Sie brauchen ihm das nicht wiederzusagen. Aber es ist eine ziemliche Mühe, denn der alte Herr hat einen unerhörten Instinkt dafür, wenn Angestellte sich vom Dienst drücken. Ray lebt viel großzügiger, als er es sich eigentlich leisten kann. Und ich habe ihn so gekleidet gesehen, als wollte er mit den elegantesten Leuten der Stadt in Konkurrenz treten.«
Die unbestimmte. Unruhe in Ellas Seele wuchs zur Panik an.
»Es ist doch – nicht etwa im Büro – etwas Unrechtes vorgefallen?« fragte sie ängstlich.
»Nein, ich nahm mir die Freiheit, seine Bücher durchzusehen. Sie stimmen. Sein Kassenbuch ist bis auf einen Penny in Ordnung. Mit roher Offenheit gesagt: er stiehlt nicht. – Zum mindesten nicht bei uns. Aber noch ein anderes Detail. Er nennt sich Raymond Laster in Knightsbridge. Ich habe das durch Zufall herausgefunden und habe ihn gefragt, warum er einen andern Namen angenommen hat. Seine Erklärung war ziemlich glaubhaft. Er wollte nicht, daß Ihr Vater hören sollte, daß er auf so großem Fuß lebt. Er hat eine ziemlich einträgliche Nebenbeschäftigung. Aber er will nicht sagen, welcher Art sie ist.«
Ella war froh, als Johnson sie verließ. Froh, einen stillen Platz inmitten weiter Parkflächen zu erreichen. Sie mußte nachdenken und sich über ihre künftige Handlungsweise klarwerden. Ray war nicht so geartet, daß er sich von ihr oder von Johnson mit drakonischer Strenge würde behandeln lassen. Auch der Vater durfte nichts erfahren. Sie mußte sich an Ray wenden. Vielleicht entsprach es der Wahrheit, daß er eine einträgliche Nebenbeschäftigung hatte. Eine Menge junger Leute benützten ihre freie Zeit auf solche Weise. Aber Ray war kein Arbeiter.
Sie setzte sich auf einen Parkstuhl und war so sehr in ihr Sinnen vertieft, daß sie es nicht gewahrte, als jemand vor ihr stehenblieb.
»Das ist ja wunderbar!« sagte eine lachende Stimme, und sie sah in Dick Gordons hübsche blaue Augen auf. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem ihren. »Und jetzt werden Sie mir bitte sagen, in was für Schwierigkeiten Sie geraten sind?«
»Warum meinen Sie, daß ich in Schwierigkeiten geraten bin?«
»Sie machen ein so trauriges Gesicht«, lächelte er. »Vergeben Sie diesen Aufzug. Ich habe einen offiziellen Besuch bei der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten abstatten müssen.«
Jetzt erst bemerkte sie, daß er den offiziellen Anzug des Beamten trug, Gehrock, Zylinder und die vorschriftsmäßige Krawatte. Sie fand, daß er sehr gut darin aussah.
»Ich glaube beinahe, daß Ihr Bruder Ihnen Sorgen macht? Ich habe ihn vor wenigen Minuten gesehen. Hier ist er wieder!«
Sie folgte erstaunt seinem Blick und fuhr von ihrem Stuhl auf.
Auf dem mit Lohe bestreuten Reitweg, der mit der Parkstraße parallel lief, kamen ein Herr und eine Dame zu Pferd heran. Der Herr war Ray. Er war sehr elegant gekleidet, und von den Spitzen seiner glänzenden Reitstiefel bis zu seinem grauen, steifen Hut entstammte alles den teuersten Quellen. Das Mädchen neben ihm war jung, schön, zierlich. Die Reiter passierten, ohne daß Ray der interessierten Zuschauer gewahr wurde, und Ella, die vor Staunen erstarrte, vernahm den hellen Klang seines Lachens.
»Ich begreife nicht ... Kennen Sie die Dame, Herr Gordon?«
»Dem Namen nach wohl«, sagte Dick trocken. »Sie heißt Lola Bassano.«
»Ist sie eine Dame?«
Dicks Augen zwinkerten. »Elk verneint es, aber Elk hat übernommene Vorurteile. Sie besitzt Reichtum, Erziehung und Wissen. Ob diese drei Trümpfe genügen, um eine Lady zu machen, weiß ich nicht.«
Ella saß mit wirbelnden Sinnen still.
»Ich glaube, Sie brauchen Hilfe für Ihren Bruder?« sagte Dick. »Nicht wahr, er macht Ihnen Angst?«
Sie nickte. »Es ist auch mir ein Rätsel. Ich kenne alle Details über ihn, sein Gehalt und seine merkwürdige Maskerade unter einem andern Namen. Das alles würde mir keine Sorgen machen, denn junge Leute haben diese Art von Geheimnissen gern. Nur sind sie unglücklicherweise teure Geheimnisse. Und ich mochte wissen, wie er es sich leisten kann, seine neugewonnene Stellung aufrechtzuerhalten.«
Dick erwähnte eine Summe, die bewirkte, daß Ella mit staunend geöffneten Lippen reglos sitzen blieb. »Ja, das kostet es«, sagte Dick. »Elk, der eine Leidenschaft für genaue Einzelheiten hat und der auf den Penny weiß, was zum Beispiel dieser Reitanzug kostet, hat mir diese Angaben geliefert.«
Sie unterbrach ihn mit einer so verzweifelten Geste, daß er sich brutal vorkam. »Was kann ich tun? Was kann ich tun?« fragte sie. »Jeder will mir helfen. Sie, Herr Johnson, und ich glaube auch Herr Elk. Aber es ist unmöglich. Es mag Ihnen vielleicht komisch vorkommen, daß ich in solche Aufregung über Rays dumme Streiche gerate, aber es bedeutet für Vater und mich ja so viel.« Als habe sie seine Gedanken erraten, fragte sie plötzlich: »Ist sie eine liebe Person, das Fräulein Bassano? Ich meine, ist sie jemand, mit dem Ray bekannt sein darf?«
»Sie ist sehr reizvoll«, antwortete Dick nach einer Pause.
Sie bemerkte sein Ausweichen und führte das Gespräch nicht weiter. Sie kam auf ihre Unterredung mit Ezra Maitland zu sprechen, und er hörte ihren Bericht an, ohne Überraschung zu äußern.
»Er ist ein ungeschliffener Diamant«, sagte er. »Elk weiß etwas über ihn, aber er will es mir nicht verraten. Elk liebt es, seine Vorgesetzten zu mystifizieren, er tut es beinahe noch lieber, als einen Verbrecher zu entdecken.«
»Warum trägt Maitland Handschuhe im Büro?« fragte Ella.
»Handschuhe? Das habe ich nie gewußt«, sagte er überrascht.
»Als er die Hand hob, um seinen Bart zurückzustreichen, habe ich es gesehen. Und ich habe auch gesehen, daß er auf dem linken Handgelenk eine Tätowierung trägt. Sie kam gerade noch unter dem Rand des Handschuhs hervor. Und es war unverkennbar der Kopf eines Frosches.«
»Sind Sie sicher, sich das nicht nur eingebildet zu haben, Fräulein Bennett?« fragte Dick. »Ich fürchte, der Frosch macht uns nervös.«
»Aber ich stand nur wenige Schritte von ihm entfernt«, beharrte sie.
»Haben Sie mit Johnson darüber gesprochen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber ich erinnere mich jetzt, daß auch Ray gesagt hat, Herr Maitland trage Sommer und Winter Handschuhe.«
Dick war wie vor den Kopf geschlagen. Es war doch unwahrscheinlich, daß dieser Mann, das Haupt einer großen Finanzgruppe, mit einer Bande von Landstreichern im Bunde sein sollte. »Wann kommt Ihr Bruder nach Horsham?« fragte er ablenkend.
»Am Sonntag«, sagte das Mädchen. »Er hat Vater versprochen, mit uns zu essen.«
»Vielleicht wäre es dann möglich, mich als vierten zu laden?«
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