Also habe ich doch unsere Geschichte erzählt. Eine Kurzfassung zwar nur und eine möglichst harmlose Variante, aber der Effekt war doch unerwartet. Andreas war zutiefst schockiert. Er war so aus dem Gleichgewicht gebracht worden, dass ich von mehreren Seiten darauf angesprochen wurde, wie unsensibel ich doch sei, den armen Andreas so zu traumatisieren. Das sei doch kein Thema für so einen Abend, manche Menschen würden solche Geschichten nicht verkraften. Sorry, Andreas, auch das ist die Realität. Ich kann leider keine Rücksicht auf Menschen nehmen, die es nicht verkraften, solche Geschichten zu hören. Denn ich habe sie sogar erleben müssen.
Um solche Situationen also in Zukunft zu vermeiden, habe ich folgendes beschlossen: In den zwei Stunden, die ich pro Woche frei habe, werde ich etwas tun, das absolut nichts mit Kindern zu tun hat. Ich blättere durch den Volkshochschulkatalog. „Hacken für Nerds“ klingt doch ganz gut. Da geht es garantiert nicht um Babies.
Wenn Du Dein Kind nicht mehr impfen darfst
Ich habe neulich eine Freundin verloren. Das ist jetzt nicht so dramatisch, wie es im ersten Augenblick klingen mag. Sie lebt mit ihrer Familie glücklich in einem Vorort und veranstaltet gerade vermutlich eine Masernparty. Aber so genau weiß ich das nicht, denn wir haben keinen Kontakt mehr. Seit einem Streit, in dem es um Prioritäten ging.
Alles fing damit an, dass sie mich anrief und mir mitteilte, dass sie mich und the Kid endlich besuchen und ihre beiden jüngeren Kinder mitbringen wolle. Die beiden sind sechs beziehungsweise zehn Jahre alt und – was der springende Punkt ist – ungeimpft. Und genau hier beginnt das Problem. Ich habe nichts gegen Impfgegner. Ich bin als Säugling selbst im Krankenhaus gelandet, weil ich eine allergische Reaktion auf die 5-fach-Impfung hatte. Ich verstehe deshalb die Ängste der Impfgegner zu einem gewissen Grad. Das Problem ist nur, dass Kinderkrankheiten für meinen Sohn und alle anderen Kinder mit einem schwachen Immunsystem lebensbedrohlich sind. Nicht umsonst darf ich mit the Kid keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen oder in einen vollen Supermarkt gehen. Ein Kinderarzt beschrieb es mir mal knapp und hart: „Betrachten Sie es mal so. Kinderkrankheiten sind für immunsupprimierte Kinder ungefähr so gefährlich, wie Ebola für unsereins.“
Windpocken haben es mir besonders angetan. Als Kind habe ich nämlich eine Superinfektion bekommen und lag tagelang im Delirium. Obwohl ich immunkompetent, also ein ganz normal gesundes Kind war. Die Narben sind heute noch zu sehen, obwohl ich damals gar nicht in der Lage war, zu kratzen. Diese furchtbare Krankheit, die viele zu den harmlosen Kinderkrankheiten zählen, ist so heimtückisch, dass sie, wenn der Wind falsch steht, über viele Meter übertragen werden kann. Ich breche jedes Mal in Schweiß aus, wenn ich mit the Kid an einem Schulhof vorbei muss und gerade Pause ist. Und das schlimmste an der Sache ist, dass ich meinen Sohn eigentlich nicht impfen darf. Ärzte und Experten sind sich einig: Immunsupprimierte Kinder sollten keinen Lebendimpfstoffen ausgesetzt werden. Denn diese enthalten das lebende Virus, wenn auch in abgeschwächter Form. Windpocken, Masern, Mumps und Röteln gibt es aber leider nur als Lebendimpfstoff.
Ich habe meiner Freundin, nennen wir sie Bertha, also erklärt, dass das mit dem Besuch keine so gute Idee sei. Denn sollte in ihrer Schule eine Kinderkrankheit ausbrechen, wären ihre Kinder definitiv Überträger. Und da eine Inkubationszeit, in der man noch nichts von den Symptomen sieht, die Kleinen aber schon ansteckend sein können, mehrere Tage bis Wochen dauern kann, wäre mir so ein Besuch definitiv zu gefährlich für the Kid. Ich würde sie und ihre Kinder zwar gerne mal wiedersehen, aber nicht bei mir und nicht in Anwesenheit von the Kid. Bertha war entrüstet. Sie meinte, man könne es auch übertreiben. Ich solle nicht so hysterisch sein und Prioritäten setzen.
Bertha fühlte sich in ihrer Entscheidung als Impfgegnerin angegriffen. Ich bin auch gegen Impfzwang, trotz unserer Situation. (Obwohl ich gerade ernsthaft in Erwägung ziehe, in ein Land mit strikten Impfgesetzen zu ziehen, um meinem Sohn normale Sozialkontakte zu ermöglichen). Aber ich bin auch verwundert, mit welcher Leichtfertigkeit manche Mütter auf ihre individuelle Freiheit pochen. Bertha führte an, dass andere Mütter von ihr verlangt hätten, ihren Ältesten zu Hause zu behalten, als er die Windpocken hatten: „Stell Dir vor, die haben doch tatsächlich von mir verlangt, dass ich meinen Sohn wie einen Gefangenen im Haus halte. Und das ganze zwei Wochen!“ Das erinnerte mich an eine andere Mutter, die meinte: „Sollen doch die Immunschwachen zu Hause bleiben.“ Ja, das machen wir. Wie Gefangene. Nicht nur für zwei Wochen. Und genau das ist für mich der Punkt. Ist es denn zu viel verlangt, sein Kind, solange es eine ansteckende Krankheit hat, zu Hause zu behalten? Was sind denn, verdammt nochmal, zwei Wochen Rücksichtnahme, wenn man einem anderen Kind dadurch das Leben retten kann? Die Inkubationszeit ist schon heimtückisch genug, wenn man noch nichts von der Erkrankung weiß, aber schon ansteckend ist. Da möchte ich auch niemandem einen Vorwurf machen. Aber ich muss auch kein Risiko eingehen und halte meinen Sohn deshalb von ungeimpften Kindern fern.
Vielleicht hat Bertha ja recht und ich übertreibe. Gestern bin ich innerlich wieder in Panik ausgebrochen, als ich mit the Kid an einem Mädchen mit Pickeln im Gesicht vorbei lief. In meiner Phantasie waren das eindeutig Windpocken. Aber wenn es danach ginge, müsste ein Drittel aller Kinder, denen wir nach unserer Klinikentlassung auf der Straße begegnet sind, die Windpocken gehabt haben. Wohl doch eher unwahrscheinlich. Trotzdem habe ich schon unzählige Male die Straßenseite gewechselt oder auf dem Absatz kehrt gemacht, weil uns ein gepunktetes Kind entgegen kam. Ich mag hysterisch sein und übertreiben, aber ich setze Prioritäten. Und, ja liebe Bertha, ich weiß genau, wo meine Prioritäten liegen. Heute rief mich eine andere Freundin an, die ich in der Klinik kennengelernt habe. Ihr Sohn ist so alt wie the Kid und auch lebertransplantiert. Er hat sich mit einer harmlosen Erkältung angesteckt. Seit gestern liegt er deswegen im Krankenhaus. Noch Fragen?
Keime, Viren und der Postbote
Normalerweise bestelle ich keine Produkte über das Internet. Weder Bücher, noch Babypflege oder Kleidung. Ich finde es politisch nicht korrekt, große Konzerne zu unterstützen, während immer mehr kleine Läden pleite gehen. Aber unsere Isolation hat dazu geführt, dass ich gegen meine Prinzipien verstoße. Beim Einkaufen in vollen Läden könnten uns einfach zu viele Keime begegnen. Nun ja, das Gemüse kaufe ich noch nicht im Internet. Das besorge ich am Dienstagmorgen, wenn kaum jemand einkaufen geht, im Bioladen, gut vorbereitet mit Desinfektionsspray in der Jackentasche und the Kid sicher im Tragesack verpackt, sein Näschen in meiner Jacke versteckt.
Eigentlich ein Wunder, dass mich bisher noch niemand schräg angesprochen hat, wenn ich mir, nachdem ich am Kühlregal war, meine Hände desinfiziere, um meinem Sohn sein Mützchen zurecht zu rücken. Seltsame Blicke habe ich aber schon eine Menge kassiert. Wie damals, als ich mit Erkältung und the Kid im Tragetuch spazieren ging. Natürlich mit Mundschutz, um meinen Kleinen nicht anzustecken. Für solche Zwecke habe ich ein besonders schickes Modell mit Blümchen. Trotzdem blieben die Kinder mit offenem Mund am Straßenrand stehen, bevor ihre Mütter sie schnell zur Seite zogen. Offensichtlich haben auch andere Mütter Angst vor ansteckenden Krankheiten. The Kid stört sich aber zum Glück nicht an meiner seltsamen Aufmachung. Er ist diese seltsamen Masken noch aus dem Krankenhaus gewohnt, wo erkältete Ärzte und Schwestern sie regelmäßig trugen.
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