Wenn sie zum Beispiel das Zimmer Noras reinigte, so konnte sie an den vielen naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen, die sie dort fand, in eine Welt eintauchen, die ihr selbst in ihrem Herzen niemals erschienen wäre, und die ihr die Lehrer in der Schule so auch nie geschildert hatten. In diesen Schriften aber – in die sie hineinschauen konnte, weil sie offen auf dem Tisch lagen – sah sie in eine Welt hinein, die ihr nicht nur fremd, sondern auch unheimlich war.
Da waren zum Beispiel Aufzeichnungen über die Entstehung der Welt und des Menschen. In ihnen wurde von einem Urknall gesprochen und die Sonne wurde nur so gesehen, als sei sie ein Gasball, der zusammen mit der Erde und allen anderen Planeten, aus diesem Urknall entstanden war und bald auch wieder verlöschen würde. Da waren Schriften über die Entstehung des Lebens aus einem Urschlamm heraus, über den Kampf des Daseins, und über die Entwicklung der Tiere bis hinauf zum Menschen.
Und die Art, wie das dargestellt wurde, erschreckte sie, da sie an ihre Mutter und an deren Blick aus der Sonne dachte. Für sie waren die Weltenkörper belebt, hatten Seele und Geist und schauten auf sie herab. Und für sie war das Leben die Offenbarung eines Schöpfers, der die Welt aus sich herausgesetzt hatte und gestaltete. Niemals konnte sie sich vorstellen, dass das Leben – so mir nichts, dir nichts – aus einem Urschlamm heraus hätte entstehen können. Denn für sie stand die Idee der Schöpfung vor dem stofflichen Werden. Das heißt, dass sich für ihren Blick die Entstehung der Welt von oben nach unter gestaltete, und nicht von unten nach oben. Denn die Idee Gottes stand für sie an erster Stelle der Schöpfung – so wie der Uhrmacher am Beginn seiner Schöpfung steht.
Und in Lucias Zimmer fand sie Bilder und Gebete, die ihr sagten, dass Lucia die irdische Natur zwar liebte und verehrte, aber nur zu ihrem eigenen Heile. Sie sah sie als Schöpfung Gottes, der ihr damit ein Paradies auf Erden geschaffen hatte, und missachtete ihre eigene Aufgabe innerhalb derselben. Für sie war der Mensch ausersehen, Gottes Wille auf Erden zu tun und damit sein eigenes größtmögliches Heil zu fördern. Es waren schöne Worte, die betäuben konnten, aber sie rissen den Vorhang zur Wahrheit nicht auf. Sie sprachen ihr nicht von den wahren Geheimnissen der Natur und des Lebens. Und auch nicht von der Verantwortung des Menschen gegenüber einer zukünftigen Welt. Sie waren ihr zu ungewiss und zu weit weg vom wahren Sinn des Lebens und natürlich von dem Geist ihrer Mutter.
Für Anna gingen diese Aufzeichnungen und Schriften am wahren Sinn des Lebens vorbei, denn für sie waren Natur und Geist eine Einheit, und der Mensch ein Mitschöpfer am Werden der Welt. Und so waren ihr diese Aufzeichnungen fremd, und zeigten ihr doch, wie man aus verschiedenen Richtungen heraus, auf das Leben und den Menschen schauen konnte.
Sie aber sah, dass sich das eine – der Geist – im anderen – der Materie – nur offenbarte, und sie selbst als Mensch zwischen diesen Welten gestaltend stand. Und dort wollte sie sich finden und kennen lernen. Das war ihre Suche, ihr Kampf und ihr Welt. Und so wurde sie trotz des vielen Kummers und der vielen Arbeit im laufe der Jahre immer reicher und edler in ihrem Herzen und unter der Haushaltsschürze und der Arbeitskleidung auch immer schöner – was die Stieftöchter natürlich sahen und was sie nur noch mehr verunsicherte und erzürnte.
Und eines Tages sagte Lucia zu ihr: „Komm Anna, wir laden dich ein, mit uns einen Spaziergang zu machen.“
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