Nachdem ich geendet hatte, erfüllte unser Schweigen die Dunkelheit, während das Grollen aus den Bergen und das Rauschen der Nacht Welten entfernt schien. Ich hörte, wie Willem seine Teetasse auf den hölzernen Beistelltisch abstellte und seufzte. Es war ein seltsamer Laut, der Sprache vorhergehend und doch stärker im Ausdruck als es tausend Worte hätten sein können. Ohne, dass Willem mich dazu aufgefordert hätte, sprach ich weiter, verlor mich in den Gedanken, die in mir schlummerten, seit ich ein Kind gewesen bin.
„Die Zyklen sind Sinnbild der kosmischen Ordnung, an die wir glauben. Der Hof des Kraton bewahrt diese Erinnerungen. Der gong ageng, der große und ehrwürdigste Gong im Gamelan, webt den ausgedehntesten dieser Zyklen, dem sich alle anderen unterordnen, der alle anderen umschließt, mit ihnen koinzidiert. Die Musik hat keinen Anfang und kein Ende, denn sie ist ewig, zirkulär.“
„Und doch wissen wir selbst nicht recht, wo wir stehen…“, war Willems Stimme in der Dunkelheit zu vernehmen. Seine Worte rissen mich in die bodenlose Tiefe, in den Abgrund meiner Selbstzweifel. Wie viele Male hatte ich über die Zyklen nachgedacht, über die kosmische Ordnung der javanischen Weltanschauung gegrübelt, und doch nicht herausfinden können, wo ich selbst, dieser unendlich kleine Teil des großen Ganzen, mich befand.
In dieser Nacht hatte sie wieder einen Traum. Ihr Körper wälzte sich hin und her, wirbelte die dünne Bettdecke auf, die ihn umhüllte.
Sie kamen zu ihr, die schlangenhaften Gestalten. Sophia wusste, dass man sie Naga nannte. Menschenkörper, die nicht in Beinen, sondern einem mächtigen Schlangenschwanz endeten. Ihre Schuppen schillerten bunt, rubinrot, azurblau, jadegrün. Sie hatten sie umringt, und Sophia hörte das Schleifen ihrer Schlangenleiber auf dem Boden, so als wären die Geräusche selbst in ihrem Kopf gefangen.
Die Naga waren beiderlei Geschlechts, Naga und Nagini. Sie stammten aus der indischen Mythologie, hatten aber durch die Ausbreitung indischen Kulturguts auch in anderen Ländern Südostasiens Verbreitung gefunden. Und nun umringten sie sie, starrten mit ihren fremdartigen Augen auf sie herab, zischten mit ihren gespaltenen Zungen. Sie wusste, was nun kam. Man würde ihre eigene Zunge ritzen, mit fremdartigen Symbolen versehen. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war starr. Ihr Körper gehorchte ihr einfach nicht mehr. Sie fühlte sich wie eine Marionette, der man die Schnüre durchtrennt hatte. Schweiß rann über ihren Rücken. Es war heiß und feucht, tropisch. Sie stand barfuß auf etwas, das sich wie vom Urwald überwucherter Steinboden anfühlte. Andere Geräusche mischten sich dazu, klangen aber fern. Sie halten seltsam nach, klangen unwirklich. Sie hörte etwas, das einem erschallenden Gong glich, aber der Klang wollte nicht weichen, hatte nicht den natürlichen Fluss eines an- und absteigenden Lautes. Er klang in einem fort, herrschsüchtig und ewig.
Jetzt kamen sie, machten ihre seltsamen, animalischen Laute. Hin und wieder meinte sie, unter das Zischen würden sich menschliche Worte mischen, doch sie konnte sie nur erahnen, nicht verstehen. Warum taten sie das mit ihr? Sie hatte Angst, ihr Magen verkrampfte sich. Sie fürchtete sich davor, erbrechen zu müssen oder Schlimmeres. Eine der Naga hielt eine Art Meißel und einen Hammer bereit. Ihre Sicht verschwamm, Schweiß war ihr in ihre Augen gekommen. An diesem Punkt wachte sie auf. Früher als zumeist.
Ihr Herz raste. Sie war nass geschwitzt. Sie brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, wo sie war. Sophia war aufgeschreckt, saß aufrecht auf dem Hotelbett. Sie blinzelte, dann entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. Langsam erhob sie sich, stolperte, noch etwas unsicher auf den Beinen, ins angrenzende Bad. Sie fand den Lichtschalter und dann das Waschbecken. Sie riss den Hahn auf, hielt ihr Gesicht in den kühlen Strom fließenden Wassers. Den Blick in den Spiegel mied sie.
Wieder zurück im Raum, setzte sie sich auf das unordentliche Bett und schaute zum geöffneten Fenster hinaus. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Nach ihrem Gespräch mit dem Japaner an der Bar, das bis Mitternacht gedauert hatte, konnte sie nicht mehr als wenige Stunden geschlafen haben. Sie war nie ein Mensch gewesen, der viel Schlaf gebraucht hatte, aber langsam machten sich die Träume auch dahingehend bemerkbar. Sie fühlte sich müde, erschöpft. Zeit, die Reise fortzusetzen. Wissend, dass sie ohnehin nicht mehr einschlafen würde, kramte sie in ihrer Handtasche und holte das kleine, in Leder eingebundene Tagebuch ihrer Großmutter hervor.
Sie hatte ihre Großmutter nicht gekannt. Das Einzige, was sie vor dem Tod ihrer Mutter von ihrer Existenz gewusst hatte, war ihr Name gewesen. Es war ihr eigener. Auch ihre Mutter hatte Sophia geheißen. Es gab eine Zeit, da hatte sie lange darüber nachgedacht, wie seltsam dies doch war. Aber da ihr so manches an ihrer Mutter seltsam vorgekommen war, hatte sie irgendwann aufgehört, darüber nachzudenken. Eine Antwort hatte sie von ihrer Mutter ohnehin nicht erwarten können.
Jetzt sitze ich hier also, dachte sie. Habe das Buch einer mir fremden Frau aufgeschlagen. Sie hatte eine schöne Handschrift, meiner eigenen sehr ähnlich. Fremde Gedanken und Erinnerungen. Sie sind in diesem Buch konserviert. Einem Eintrag im Buch folgend, war sie nach Singapur gekommen. In London hatte sie es nach dem Tod ihrer Mutter nicht mehr ausgehalten. Sie hatte nur wenige Freunde. An ihren Vater konnte sie sich nicht mehr erinnern, wusste noch nicht einmal, ob sie ihn überhaupt jemals getroffen hatte. Ihre Mutter hatte nie davon gesprochen.
Sophia zog sich ein frisches Shirt an, warf sich eine dünne Strickjacke über und öffnete die Türe zum Balkon, auf den sie hinaustrat und die noch kühle Luft in ihre Lungen sog. Es fühlte sich gut, fühlte sich befreiend an, verdrängte die Traumfetzen, die noch in ihrem Kopf herumspukten. Das Buch und ihre Handtasche hatte sie mitgenommen. Sie holte ihre Zigaretten aus der Tasche, legte sich eine zwischen ihre Lippen und zündete sie an. Rauchend saß sie da, blickte auf Singapur hinaus, bevor sie sich wieder dem Buch widmete.
18 Stunden auf See. Die Hälfte der Reise nach Batavia ist geschafft. Meinem Magen geht es nicht so gut, ich mag diese Schiffsreisen nicht. Die See ist unruhig. Ein wenig wehleidig denke ich an Singapur zurück. Die Stadt hat mich in ihren Bann geschlagen, aber Willems Brief konnte ich nicht ignorieren. Ich spüre seine Begeisterung deutlich in den Worten, die er mir geschrieben hat. Ein javanischer Aristokrat verkehrt nun in seinem Haus und ich kann es kaum erwarten, diesen Mann kennenzulernen. Ich habe wieder geträumt und glaube langsam, dem Ziel meiner Träume näherzukommen. Vielleicht finde ich auf Java einige Antworten. Bilder, die ich gesehen habe, faszinieren mich. Die Frauen, anmutig wie filigrane Puppen, in ihren bunten Gewändern, die Finger gespreizt zum Tanz, ihre Bewegungen formvollendet. Dann die Tempel, mächtig und alt, die Zeiten überdauernd. Auch die Schlangen. Ihre bizarren Fratzen auf den steinernen Reliefs.
Sophia hielt inne. Ihr Herz pochte. Sie war im Tagebuch ihrer Großmutter noch nicht weit gekommen. Nachdem sie die ersten Einträge gelesen hatte, war sie den Aufzeichnungen ihrer Großmutter gefolgt, hatte London verlassen und war nach Singapur geflogen. Sie hatte durch ihre fortwährende Arbeit am Institut einige Ersparnisse auf die Seite legen können, die eigentlich dazu gedacht gewesen waren, die Zeit ihrer Jobsuche zu überbrücken. Jetzt hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen. Einen Job hatte sie nicht, sie hatte keine Wohnung mehr und besaß nur das, was sie in ihren Koffern mit sich trug. Die meisten Dinge, die ihr ohnehin niemals viel bedeutet hatten, hatte sie verkauft. Wenn sie darüber nachdachte, wie verrückt es war, all das aufzugeben und den zunehmend seltsameren Tagebucheinträgen einer Frau zu folgen, die zwar mit ihr verwandt, ihr aber ansonsten völlig unbekannt war, überkam sie ein Schaudern. Aber sie wusste, dass es richtig war. Sie las den Abschnitt noch einmal, sog jedes der Worte, die vor 70 Jahren geschrieben worden waren, in sich auf, drehte und wendete es, sezierte es förmlich. Dann las sie noch weiter.
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