Meine Mutter hatte erfahren, dass unser Mitbewohner im Gutshaus, Otto Albrecht, von Beruf Maurer war, und sie bat ihn, auf dem Korridor vor unserem Zimmer einen Herd zu mauern. Nach langem Zureden war Albrecht einverstanden, forderte aber, dass wir die nötigen Mauersteine und den erforderlichen Lehm beschafften. Er ermittelte auch sofort, dass ein Schornstein an der Stelle des Flurs entlang führte, wo der Herd entstehen sollte. Durch diesen Abzug gelangte auch der Qualm aus unserem Ofen ins Freie.
Aus der Zeit seiner Tätigkeit als Maurer auf Schloss Bothmer besaß Albrecht noch eine gut erhaltene Herdplatte, Ringe, Türen aus Gusseisen sowie die erforderlichen Schamottesteine. Einen ganzen Tag lang suchte die Familie auf dem Gutshof die nötigen Mauersteine zusammen, die auf dem Flur aufgestapelt wurden, und wir fanden in der Nähe des Gutshauses direkt an der Straße nach Goldbeck eine Stelle, an der fetter Lehm in ausreichender Menge vorhanden war.
Albrecht arbeitete sehr zügig und war nach einem Tag mit seinem Werk fertig. Er war in Arpshagen der erste Einheimische, der uns hilfsbereit und entgegenkommend begegnete.
Da der neue Herd am Ende des oberen Korridors stand, von dem ständig ein kaum merklicher Luftzug durch das Treppenhaus und die Flure bis zum Verandaeingang wehte, drangen auch alle Kochgerüche bis dorthin durch, sodass die Mitbewohner des Hauses an manchen Tagen genau wussten, was bei uns auf dem Speisezettel stand.
Die beiden Frauen setzen sich durch
Ende 1946 bemühten sich Else und Irmgard Lederer verstärkt darum zu erfahren, wo ihre immer noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrten Ehemänner verblieben waren. Sie schrieben an Luise Hermann geb. Lederer, die Schwester ihres verstorbenen Schwiegervaters, die noch in deren Geburtsort Neckarwestheim lebte. Heinrich und Gottlob Lederer hatten mit ihren Frauen vor ihrer letzten Begegnung während des Krieges abgesprochen, dass sie alle vier im Falle ihres Überlebens ihren Verbleib der genannten Tante Luise mitteilen würden. Auf diese Weise erfuhren Else und Irmgard Lederer aus Neckarwestheim zu ihrer Freude, dass ihre Männer das Inferno des 2. Weltkrieges als Kriegsgefangene überlebt hatten, Gottlob zuerst in Leningrad, dann in einem Lager am Swir in Russland, Heinrich in dem Dorf Ennezat in Frankreich. Sooft es möglich war, korrespondierten sie miteinander. Gottlob hatte aus Leningrad sogar noch nach Ebenau geschrieben. Seine Briefkarte kam aber nach einem abenteuerlichen Irrweg erst mit unglaublicher Verspätung bei der Empfängerin in Arpshagen an. Darüber ist an anderer Stelle noch zu berichten. Vorerst ließen die beiden Ehefrauen ihre Kinder ablichten, als ein Fotograf in Arpshagen erschien, und sandten ihren kriegsgefangenen Männern je ein Foto. Die Hoffnung, ihre Männer eines Tages für immer an ihrer Seite und in der Familie zu haben, war für beide eine weitere Motivation, sich mit ihrer ganzen Kraft auf der Siedlung zu engagieren.
1946 traf als erster Heimkehrer Max Kapanusch aus der Kriegsgefangenschaft in Arpshagen ein. Kurze Zeit später übernahm die Familie Glass (Vater Karl, Mutter Martha, Sohn Walter, „Walli“, Tochter Maria) die Siedlung Nr.3, zog in die Gutshausküche und -speisekammer ein und erhielt im alten Viehhaus einen Stellplatz für seine schwarze Kaltblutstute mit auffallendem Hängebauch und die anderen Tiere. Als nächster Siedler traf Philipp Müller jun. mit seiner Frau und seinem Sohn Klaus in Arpshagen ein. Er war in Potsdam Polizist gewesen, musste sich aber nun nach Beendigung des Krieges beruflich völlig neu orientieren. Das Zimmer über der Waschküche war für die Großfamilie Müller viel zu klein geworden, sodass sie im Erdgeschoss des Gutshauses in zwei Räume einzog.
Zimmerleute aus Klütz gestalteten den ehemaligen Speisesaal der Gutspächterfamilie Boeck um, sodass durch das Einziehen von zwei Wänden daraus drei Wohnräume für die Familie Klopp entstanden, in die Anna Klopp mit ihren Kindern Werner, Dieter und Rosemarie aus Tarnewitz einzog. Offensichtlich war der Speisesaal für Klopps Einzug blockiert worden. Karl Klopp folgte seiner Familie kurze Zeit danach und wurde trotz seiner Verwundung als Soldat und seiner irreparablen Beinbehinderung Siedler. Aus Kühlenstein traf als vorletzter Neubauer Otto Bischoff mit Frau und den erwachsenen Kindern Waltraud („Traudchen“) und Eberhard („Hardi“) im Gutshaus ein und bezog das von Familie Müller frei gezogene Zimmer über der Waschküche.
Nachdem Hildegard Dreyer mit ihren Töchtern eine Wohnung in Klütz erhalten hatte, folgte als schließlich letzte die Familie Wohlfeil (Vater Friedrich, „Fritz“, Mutter Emma mit den erwachsenen Kindern Edith und Felix), die in die von Dreyers geräumten Zimmer einzogen.
Die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe unterhielt im Gutshaus Arpshagen ein Büro mit dem damals einzigen Telefonanschluss im Gutsdorf. Hier waren die Herren Teut und Kröpelin tätig, die jeden Morgen von Klütz hierher zur Arbeit kamen und sich dabei speziell auf dem Gutshof den Weg durch den Schlamm bahnen mussten. Was sie da eigentlich im Büro aufschrieben und berechneten, was sie in Vordrucke und Listen eintrugen, ist mir unbekannt geblieben. Herr Teut, der mit der Flüchtlingswitwe Brauner zusammenlebte und sie später auch heiratete, empfand wohl für die Bewohner des Gutshauses Sympathie und Verständnis, vielleicht sogar Mitleid. Möglicherweise regte sich gar sein Gerechtigkeitssinn, als er eines Tages meine Mutter beiseite nahm und ihr zuflüsterte: „Frau Lederer, heute Nachmittag findet im Schweinestall die Verlosung der Schweine statt. Aber Heinrich Frederich hat sie ganz allein in die Hand genommen und davon nur die einheimischen Siedler informiert. Bitte verraten Sie niemand, dass ich Ihnen das verraten habe!“
Nun war meine Mutter zeit ihres Lebens nie autoritätsgläubig, und wenn sie spürte, dass ihre Grundsätze von Gerechtigkeit verletzt wurden oder gegen ihr rechtlich zugesicherte Interessen verstoßen wurde, nahm sie ihr Herz in beide Hände und forderte freimütig und entschlossen ihre Rechte ein, so auch diesmal. Kurzfristig informierte sie die bei dieser Aktion ausgegrenzten Siedler und erschien mit etlichen von ihnen zu der vorgesehenen Zeit im Schweinestall. Frederich fragte sichtlich überrascht: „Und was wollen Sie hier?“ Selbstbewusst entgegnete Irmgard Lederer: „Dasselbe wie Sie! Wir wollen auch an der Schweineverlosung teilnehmen. Wir haben hier in Arpshagen viele Pflichten, aber auch Rechte, und die wollen wir jetzt wahrnehmen.“ Widerstrebend musste Frederich nun alle hier im Stall Versammelten an der Verlosung teilnehmen lassen, und meine Mutter hatte Glück: Sie zog ein Los, das sie zur Besitzerin einer tragenden Sau machte. Dadurch verbesserte sich ihre wirtschaftliche Ausgangsposition auf der Siedlung erheblich. Als die Sau geferkelt hatte, konnte sie einige Ferkel anderen Neubauern überlassen, die dafür das Ablieferungssoll meiner Mutter für Schweine-, sogar für Rindfleisch übernahmen. Außerdem konnte im folgenden Winter ein Schwein für den privaten Verbrauch geschlachtet werden.
Als ein weiterer uns wohlwollend und freundlich gesinnter Mecklenburger erwies sich der Bauer Bibow aus Tarnewitzerhagen, dem Irmgard Lederer in den Sommermonaten 1945 von Oberklütz aus beim Dreschen geholfen hatte und der ihr dafür Produkte von seinem Hof versprochen hatte. Eines Tages erschien er mit einem ganzen Kastenwagen voller Erzeugnisse von seinen Feldern und aus seinem Garten, die in unserem Gutshauskeller abgeladen wurden. Mehrere Säcke Kartoffeln, Möhren, Rotkohl, Weißkohl, Wruken, Porree, Sellerie, Beutel mit Erbsen, weißen Bohnen und Kartoffelmehl sorgten für mehrere Wochen für Abwechslung auf unserem Speiseplan. Großmutter Alwine Diethert verschenkte von diesem unerwarteten Überfluss sogar noch einiges an die Mitbewohner des Gutshauses.
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