Ich definierte die Persönlichkeit des Psychopathen
Auch mir fehlte die Vorstellung. Niemand hatte mir jemals erklärt, dass es solche Menschen gibt. Diese Persönlichkeits-struktur war nie in meinem fachlich gebildeten Umfeld aufgetaucht, weder im privaten Bereich noch während des Studiums. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so etwas gab.
Mehrere Monate nach Jochems Verschwinden kam ich dahinter. Tag und Nacht hatte ich all die vielen schockierenden Informa-tionen in mir bewegt, die ich inzwischen zusammen getragen hatte: WAS hat er getan – WIE trickreich ist er vorgegangen! – aber WARUM? WOZU? WAS hatte er davon? Ich wog alles nach allen Seiten ab... diese Definition passte nicht... jene Diagnose passte auch nicht...
...und da, eines Nachts, plötzlich hatte ich es
Nein, das k a nn nicht sein!
Doch es gab wirklich überhaupt keine andere Erklärungs-, Inter-pretations- oder Deutungsmöglichkeit: ich hatte das Innere des eiskalten, skrupellosen psychopathischen Betrügers vor mir, ganz nah
– da fühlte ich mich, als stünde ich direkt vor einem „Schwarzen Loch“ und werde da hinein gezogen...
...ich war so grauenhaft entsetzt, dass ich innerlich sozusagen mehrere Schritte zurück treten musste. Es war wirklich uner-träglich, unmöglich, diese Wahrheit aus der Nähe zu ertragen.
Zu dieser Zeit kam das Buch von M.Stout auf den Markt „der Soziopath von nebenan“. Ich hatte zwar kein Geld, es zu kaufen, las aber alle Auszüge und Besprechungen im Internet. Ja, mit genau solch einem Menschen hatte ich gelebt! Ich wusste es, ich hatte es verstanden! Erst 2009 bekam ich das Buch in die Hand und arbeitete es begeistert durch. Ihre Beschreibung der Per-sönlichkeitsstruktur des Psychopathen ist wirklich sehr treffend und eindrücklich. Auch als Opfer fühlte ich mich von ihr sehr verstanden. Sie weiß, dass es sich immer extrem verunsichernd auswirkt, mit solch einem Menschen zu tun zu haben.
Viele Opfer interessieren sich nicht so sehr für „ihre Täter“. Sie sind wütend, ärgerlich, multipel zerstört und haben genug damit zu tun, sich selbst und ihr eigenes Leben wieder auf-zubauen. Aber ich habe auch einige Opfer erlebt, die, ähnlich wie ich, „ihren“ Täter verstehen wollten. Ich habe miterlebt, dass sie sich ebenfalls wie vor solch einem „Schwarzen Loch“ fühlten, wenn sie es verstanden, ähnlich wie ich, und dass sie diese Vorstellung auch nicht ertragen haben.
Manche mussten es dann wieder ausblenden, ignorieren oder es sich ein wenig schön reden: „er war wohl doch krank; die Ärzte haben wohl recht: er war manisch-depressiv“ oder so ähnlich.
Doch eine manische Phase ist von einem Realitätsverlust gekennzeichnet, während Betrüger sich klar und eindeutig in der Realität bewegen. Es ist leichter zu ertragen, von einem Kranken zerstört zu werden als von der Bosheit in Person.
Un-Vorstellbares vorstellbar machen
Erschreckende Dinge habe ich beschrieben. Un-Vorstellbares ist – hoffentlich – vorstellbar geworden. Doch es geht nicht ums Erschrecken, dabei soll bitte niemand stehen bleiben! Es geht ums Dazu-Lernen. Wenn wir unseren Horizont um diese innere Dimension erweitern, verstehen wir das Leben um uns herum besser. Wer die beschriebenen Aspekte in den Bereich der realen Möglichkeiten mit einbezieht, kann sich dadurch manchmal anders verhalten, eventuell doch einmal besser schützen, kann vielleicht im beruflichen Umfeld destruktive Persönlichkeiten klarer definieren und gezielteren Widerstand leisten. Oder Fliehen, wenn nötig. Und sollte einE LeserIn in die Situation des Betrugsopfers geraten – was ich niemandem wünsche! - wird diese Person sogar damit besser umgehen können.
Nun zu vier Hauptaspekten in Bezug auf unsere Fragestellung
das Gewissen
die Verantwortlichkeit
die Macht
der Gehorsam
Diese vier Aspekte hängen direkt miteinander zusammen.
Das Gewissen – was ist das? Damit habe ich mich natürlich intensiv auseinandergesetzt. Im folgenden Abschnitt eine Systematik der wesentlichen Elemente.
→ innerer Antrieb “… ich möchte etwas erreichen”
Triebe /körperliche Grundbedürfnisse: Hunger, Sexualität, Schlaf…
Ehrgeiz
Geltung
Bequemlichkeit
Genuss
Sicherheit
Geld, Materielles
uam
→ Hemmung “hindert mich am Erreichen meines Ziels”
=> von außen
Gesetze (Angst vor Strafe)
soziale Kontrolle (Nachbarn, Familie)
=> innere Normen
“Über-ich” (nach Freud)
Stolz / Selbstbild / Selbstachtung / Ehre
Gewohnheit
...(weitere Möglichkeiten)...
Gewissen
Sichtweise der heutigen Psychologie
Das Gewissen ist
verwurzelt in der tiefen emotionalen Verbindung zu anderen Menschen / Lebewesen, “Liebe”
Nexus von Psychologie und Spiritualität
Gefühl der Verpflichtung anderen Menschen / Lebewesen gegenüber
Einheit des Selbst mit moralischen Zielen
tiefe, sehr persönliche, gewissermaßen intime Instanz d. Persönlichkeit
Das Gewissen • wichtige Instanz der Persönlichkeit
Die folgende Grafik zeigt noch einmal das Prinzip „Gewissen“. Unsere Impulse, Motivationen, Triebe, Bedürfnisse – alle müssen sozusagen die innere „Kontroll-Instanz Gewissen passieren“.
Manches erlauben wir uns, anderes nicht, oder nur eingeschränkt. Manchmal haben wir Lust auf etwas was wir uns eigentlich nicht erlauben wollen, dann kämpft die Lust mit dem Gewissen – und manchmal siegt die Lust, dann genießen wir etwas mit schlechtem Gewissen. Ähnlich ist es mit den anderen Impulsen usw.
nr 4 Grafik Gewissen
Normale Menschen mit Gewissen ← - - - → ← - - - → Gewissenlose Psychopathen
Es liegt in der Natur des Menschen, davon auszugehen, dass andere Menschen in ihrem tiefsten Inneren ebenso „ticken“ wie sie selbst. Für normale Menschen mit Gewissen ist es ein lebens-langer Prozess, sich selbst zu beobachten, sich selbst kennen zu lernen, sich selbst verstehen zu lernen, sich selbst steuern zu lernen. Unwillkürlich gehen Menschen davon aus, dass in ande-ren Menschen die gleichen Abläufe geschehen – doch genau das ist der Irrtum: andere Menschen „ticken“ anders, Psychopathen „ticken“ TOTAL anders!
Es liegt in der Natur des Menschen, davon auszugehen, dass andere Menschen in ihrem tiefsten Inneren ebenso „ticken“ wie sie selbst. Das gilt sowohl für die normalen Menschen mit Gewissen als auch für die gewissenlosen Psychopathen. Die Psychopathen können sich nicht vorstellen, was Menschen mit Gewissen motiviert und erfüllt. Darum unterstellen sie über-zeugt und überzeugend der gesamten Menschheit, ebenso gewissenlos zu sein, wie sie es selber sind. Mit dieser Über-zeugung haben sie viele Disziplinen infiziert wie z.B. die Wirtschafts(pseudo)wissenschaften oder das juristische System.
Sie halten die Menschen mit Gewissen schlichtweg für „dumm“: „so viele wunderbare Gelegenheiten für Inszenierungen, die sich ihnen bieten würden, lassen sie ungenutzt vorüber gehen – ist das zu fassen?“ Nicht für die Psychopathen! Die lassen keine Möglichkeit aus!
Normale Menschen mit Gewissen dagegen können sich nicht vorstellen, was in gewissenlosen Psychopathen vor sich geht. Wer sich mit dem Thema beschäftigt, was dank guter Literatur möglich ist, kann es sich irgendwann „ausrechnen“, also mit dem formalen Denken erfassen. Doch in der Tiefe der Emotionalität ist die Vorstellung so gut wie unmöglich. Darum können normale Menschen mit Gewissen auch keinen gewissenlosen Psychopathen erkennen, wenn sie einen in der Nähe haben. Alles, was diese Person tut, ist auch mit normalen kausalen Zusammenhängen erklärbar – jedenfalls eine Zeitlang. Wenn es irgendwann auffliegt, ist das Entsetzen groß. Manches kommt nie ans Licht. So mancher Psychopath lebt zufrieden in Reichtum und Ansehen bis ins hohe Alter...
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