Ich rannte aus dem Haus, setzte mich in meinen achtundneunziger Renault, Marke roter Rostbomber und fuhr los. Beziehungsweise, ich wollte losfahren, als es ganz erbärmlich krachte. Da stand, wie aus dem Nichts, ein funkelnagelneuer Audi A6, metallicblau. Vorher war von dem nicht das Geringste zu sehen gewesen und nun stand, zugegebenermaßen etwas fehl am Platz, mein Rosti mitten in seiner Seite.
„Scheiße!“, fluchte ich wenig damenhaft.
Der Audi fuhr, völlig legitim, auf der Straße, auf die ich auffahren wollte. Nach der geltenden Straßenverkehrsordnung hatte er ohne Frage Vorfahrt.
„Pass doch auf!“, schimpfte Klein-Ego, der gerade sein Mittagsschläfchen halten wollte.
Aber der sollte sich da gefälligst raushalten.
Ich stieg schuldbewusst aus und murmelte: „Entschuldigung, war meine Schuld.“
Ich sah kurz auf. Dann sah ich etwas länger auf und musste wohl ausgesehen haben, wie eine Kuh, wenn es donnert.
Dieser Typ, dessen Wagen ich gerade gerammt hatte, war der reinste Augenschmaus. Ich war mir sicher, dass ich träumte. So etwas passierte nicht im richtigen Leben.
„Ist Ihnen etwas passiert?“
Er schmunzelte angesichts der starren Augen, die ihn anglotzten.
„N-n-n-nein“, stotterte ich wie ein Schulmädchen. „Es geht mir gut. Und Ihnen?“
„Ich bin o.k.“
Er schaute lange auf sein demoliertes Auto.
„Aber ich glaube, der hier hat leichte Probleme.“ Dabei deutete er auf seinen Audi, den eine mindestens achtzig Zentimeter lange Kratzspur zierte, die da eindeutig nicht hingehörte.
„Ich bin natürlich schuld“, gestand ich ein und kramte im Handschuhfach nach meiner Versichertenkarte und meinem Führerschein.
Ich schaute auf die Uhr.
„Ich habe einen dringenden Termin. Müssen wir jetzt die Polizei rufen?“ fragte ich und deutete auf meine Armbanduhr. Bei Umberto würden sie sich schon über meine Unzuverlässigkeit Gedanken machen.
„Den Unfallbericht für die Versicherung können wir auch selbst schreiben. Wir sind uns ja einig.“
Diesen Augen musste man einfach glauben.
„Ich mache nur noch ein paar Bilder, wie Ihr Renault so in meinen Audi gekuschelt ist...“
Ich sah mich schon in seine Arme gekuschelt und säuselte: „geben Sie mir doch einfach Ihre Adresse und die Telefonnummer, ich rufe Sie sofort an, wenn ich von meinem Termin zurück bin. Wo ich wohne, wissen Sie ja.“
„Ich bin nur auf Geschäftsreise hier aber Sie können mich heute Abend im „Hotel Marie“ erreichen. Meinen Wagen muss ich in die nächste Werkstatt bringen und mir direkt einen Mietwagen besorgen.“
Ich hatte es schrecklich eilig!
„Schön. Ich rufe gleich meine Versicherung an und melde das alles. Bis heute Abend dann.“
Meine alte Gurke von Auto hatte gerade mal eine zerbeulte Stoßstange und ein paar Kratzer von dem Crash davongetragen. Ich konnte ohne Probleme damit weiterfahren. Das Renaultchen hatte ganze Arbeit geleistet: selbst kaum was abgekriegt und einem neuen Audi so zugesetzt!
Ich musste an Klaus denken und fing an zu grinsen. Der hätte bestimmt eine schreckliche Szene daraus gemacht und mich in Grund und Boden geschimpft. Aber: es gab keinen Klaus mehr in meinem Leben und das erleichterte mich in diesem Moment gerade sehr.
Endlich, immer noch zitternd – ob vom Unfall oder vom Mann wusste ich nicht genau – kam ich bei Umberto an. Ich meldete mich an der Zentrale und hoffte, die Dame mit den knallrot lackierten, mindestens drei Zentimeter langen Nägeln, konnte meinen Puls nicht hören.
„Signore Castello erwartet Sie bereits“, flötete sie. Ein Wunder, dass sie nicht schnippisch hinzufügte: „seit mindestens einer Stunde!“
Bei dem Gedanken, von dem charmanten Tonio persönlich erwartet zu werden, huschte ein Anfall von Schulmädchenröte in mein Gesicht.
Klein-Ego ermahnte mich, diese saublöde Erröterei endlich sein zu lassen, ich sei schließlich einunddreißig Jahre alt! Das Wort EINUNDDREISSIG betonte er aber auch so was von unnötig deutlich. Korinthenkacker.
„Hallo Constanze. Danke, dass Sie kommen konnten. Möchten Sie einen Kaffee? Einen Espresso oder Cappuccino?“
War ich denn zum Kaffeeklatsch oder zum Arbeiten hier?
„Nein, danke. Wo ist der Text?“
„Oh, wie unsensibel. Du Schnepfe, was soll der denn von dir denken?“ schimpfte Klein-Ego schon wieder aus seiner Ecke.
Konnte dieser kleine Dreckskerl sich nicht mal aus meinem Leben raushalten? Was ging ihn das überhaupt an?
„Hier.“
Tonio überreichte mir einen Packen Papier.
„Der PC steht im Zentrallager zur Abholung bereit.“
Das klappte ja wie am Schnürchen. Ich schaute mir kurz den Text an und blätterte durch das Paket.
„Könnten Sie das bis übermorgen schaffen?“
Eine charmant italienisch-deutsch klingende Stimme holte mich in die Realität zurück.
„Aber ja, kein Problem.“
Hatte ich das gesagt? Ich hielt mindestens dreißig Seiten voller technischer Details zu einem Kühl-Gefrier-Gerät in den Händen. Und das auf italienisch.
„Schön. Ciao, Constanze und vielen Dank. Sie sind ein Schatz.“
Tonio drückte mir die Hand und verabschiedete sich sichtlich erleichtert.
Leider fehlten mir im richtigen Moment immer die passenden Sprüche.
Also machte ich mich auf den Weg, um den PC abzuholen.
„Angeschlossen wird er wie gehabt, Sie kriegen das schon hin. Das Programm finden Sie unter „Dateien“, aber Sie kennen sich ja sicher aus.“
Und weg war der Mensch aus dem Zentrallager!
Woher sollte eine seit sechs Jahren als Kindermädchen und Haushälterin praktizierende Hausfrau wissen, wie man einen Computer anschließt und bedient?
Ich nahm mir insgeheim vor, meine alte Schreibmaschine auszupacken und auf die alte, konventionelle Weise meinen Text zu übersetzen. Schließlich ging das ja früher auch!
Ich lud alles – und das war nicht wenig – in meinen rostigen Renault und fuhr zurück nach Hause.
Meine Mutter hatte in der Zwischenzeit meine Wohnzimmercouch, den Schrank, den Wohnzimmertisch und mein komplettes Schlafzimmer verkauft.
„Hier war ja einiges los“, stellte ich zufrieden fest.
Meine Mutter rollte die Augen, warf theatralisch die Hände in die Luft und drückte mir das eingenommene Geld in die Hand.
„Es war SCHRECKLICH!“
Sie sackte, einer Ohnmacht nahe, auf ein einsam auf dem Boden liegendes Kissen. Swenja und Julia stürzten auf sie uns spielten Indianer. Das war zu viel für Mutti.
„Kind, du hast doch nichts dagegen, wenn ich jetzt nach Hause fahre?“
Und schon war sie aus der Tür.
Gerade war sie mit ihrem Biedergolf um die Ecke gebogen, augenscheinlich höchst erleichtert, dass sie diesem Irrenhaus entfliehen konnte, zupfte Swenja mich am Ärmel.
„Mama, dürfen wir bei Oma schlafen?“
„Julia auch Oma schlafen.“
Konnte den beiden das nicht fünf Minuten früher einfallen?
Ich wartete also exakt zwölf Minuten bevor ich wieder zum Telefonhörer griff und erneut die Nummer meiner Mutter wählte. Komisch, obwohl sie normalerweise genau zwölf Minuten bis nach Hause unterwegs war, ging keiner ans Telefon. Hatte sie sich etwa kurzerhand entschlossen, noch einen kurzen Zwischenstopp beim Friseur oder einer ihrer Bridge-Damen einzulegen?
Meine Mutter benötigte viel Zeit für sich selbst. Wenn ich sie zum Babysitten brauchte, musste ich ihr mindestens drei Wochen vorher Bescheid geben, da sie ständig auf Achse und ausgebucht war. Kurzfristig war ein Vokabular, das nicht in den Wortschatz meiner Mutter passte.
Ich klingelte erneut bei ihr an.
„Perle.“
Die Betonung legte sie, als wäre sie frisch aus Frankreich importiert, auf das letzte e. Perleeeee.
Ich reichte den Hörer an Julia weiter. Wenn Swenja oder ihr Lieblingsschatz Julia sie baten, bei ihr übernachten zu dürfen, standen die Chancen eindeutig besser als bei mir.
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