„Fertige Vorstellungen können zwingen“, sagte er. „Doch kannst du üben, selbst der Vorstellende zu sein; wie zum Beispiel in der Kunst. Hier, der Michael, der zwingt dich nicht, der kann dir helfen. In ihm liegen so viele Geheimnisse, die du finden kannst, dass du deine Vorstellungsgabe selbst aktivieren musst. Nimm deine Vorstellungen, gestalte sie und habe Mut, sie mit diesem Bild verständig zu verbinden. In der Kunst werden dir die Vorstellungen nicht mitgeliefert. In der Kunst wirst du aufgerufen, dir die Vorstellungen selbst zu bilden. Und wenn es gute Kunst ist, so werden es auch gute Vorstellungen sein. Nur musst du sie auch haben wollen . – Stell dir in ihm, in dem Michael, dich selbst in der Freiheit des Denkens vor. Niemand zwingt dich, niemand lockt dich, niemand stellt sich auf deinen Platz. Hast du die Kraft dir das vorzustellen, so hast du den ersten Schritt zu deiner Heilung getan.
Bedenke, wie Michael schaut: nicht auf das Böse, sondern ins Licht. Immer und immer wieder lassen sich die Menschen vom Bösen beherrschen, indem sie es betrachten und betrachten. Darüber freut er sich und hält sie fest in seinem Bann. – Schau nach vorne, Johannes, schau nicht auf das, was dich belastet, sondern auf das, was du in deinem Herzen werden willst .“
Ich schwieg und versuchte zu verstehen, was er meinte. Schaute ich in dem schrecklichen Gesicht wirklich nur das Böse in mir selbst? Fesselte es mich an sich, um mich zu besitzen? Durfte ich es einfach so vergessen und ignorieren? War ich nicht gerade dann ein leichtes Opfer? Und als wenn Bruder Aurelius meine Gedanken gelesen hätte, sagte er:
„Das Licht des Denkens geht verschiedene Wege. Es kann sich fesseln lassen von den Dingen, die es belasten – und zerbricht. Oder aber es findet die Kraft, sich selbst in Liebe zu tragen – und zu gesunden. Du bist das Licht – Johannes, du bist aber auch die Dunkelheit. Erfahre dich zwischen beiden.“
Ich schaute auf den leuchtenden Erzengel Michael, der das Böse von sich wies, ohne es anzuschauen, und wollte mich mit ihm identifizieren. Aber schon das Nachdenken darüber, hielt sich – in meinem jetzigen Zustand – an das Chaos des Nichtverstehens. Das Ergreifen der Wahrheit im Lichte des freien Geistes gelang mir nicht. Wie sollte es auch, da ich nie wirklich gelernt hatte, mein Denken in Liebe selbst zu tragen – mich selbst in Liebe zu tragen.
„Können wir wieder gehen?“ fragte ich den Mönch.
„Ja“, sagte er, „gewiss. Aber beendet ist unser Weg noch nicht. Denn eines musst du noch verstehen, Johannes: Das Gesicht des Dunklen zeigt dich dir selbst, wie du in Gefahr bist zu werden, wenn du das Göttliche in dir nicht ergreifst. Siehst du, das Gesicht des Menschen ist ja von Grund auf etwas so schönes, Durchgeistigtes und Göttliches, dass wir es uns erst erringen müssen, um es zu besitzen. Lassen wir es fallen, verliert es die Göttlichkeit und zeigt uns den, der dem Göttlichen Feind ist. Das Gesicht selbst ist dann – wenn es so dunkel geworden ist – wie ein Fluch und spricht ihn auch aus. Werde Mensch, Johannes. Orientiere dich hier an dem Gesicht des Michael, das vor Gott steht und sein Spiegel ist. Lerne dich im Licht erkennen, lerne die Welt erkennen, nicht für deinen Selbstgenuss, sondern nur um ihr in Liebe zu dienen. Durchgeistigte dich und dein Gesicht, sonst wirst du es verlieren.“
„Wie mache ich das?"
„Frage die Welt, die Natur, die Sonne, die Sterne und das Leben nach den Geheimnissen, die sie dir mitteilen wollen – und lerne zu lauschen und in Seelenruhe und liebevollem Interesse zu schauen. Und dann denke und fühle das Gehörte und Gesehene aus eigener Kraft noch einmal in deinem eigenen Herzen nach. Mache dir deine eigenen und lebendigen Vorstellungen von der Natur. Reflektiere auf das Erlebte – bewusst. Lass dich nicht denken, denke dich selbst als Wahrnehmender. Das ist die erste Übung. Und denke jeden Abend und jeden Morgen meditativ folgenden Gedanken: Ich erkenne mich im Licht .“
„Warum soll ich das tun?“
„Weil du dein Denken nicht dem Fremden geben darfst.“
„Tue ich das?“
„Ja.“
„Und wenn ich mir immer wiederhole: Ich erkenne mich im Licht , tue ich das nicht mehr?“
„Nein, aber schau: So, wie Michael hier das Eisenschwert dem Schwefeldunst des Bösen entgegenhält, so musst du das Eisen in deinem Blut als deine unverwüstliche Selbstheit empfinden und sie dem eigenen inneren Chaos entgegenhalten, der dich in deinem Denken verwirren will. Dann bleibst du in deinem Denken du selbst und kannst sagen: Ich erkenne mich im Licht . Dann hast du die Kraft dich im Lichte deines Denkens auf dich selbst zu berufen und unterliegst keiner fremden Macht. Das Eisen in deinem Blut macht dich frei und stützt dein Denken im Licht.“
„Darüber muss ich nachdenken“, sagte ich und war müde im Kopf.
„Richtig“, bestätigte er mit einem Lächeln. Aber es ist erst der Anfang. Denke jeden Tag wenigstens fünf Minuten an den Satz: Ich erkenne mich im Licht .“
Daraufhin verließen wir die Kapelle, ohne in sie eingetreten zu sein, und Bruder Aurelius führte mich in den Innenhof des Klosters. Dort gab er mir eine letzte Unterweisung, bevor er mich entließ. Er sagte:
„Johannes, denke abends deinen Tag zurück. Immer wenn du zu Bett gegangen bist, musst du dir vorstellen, dass du dir rückwärts zuschaust, wie du zu deinem Bett gekommen bist. Du musst also von dem Moment angefangen, wo du dich hingelegt hast, Schritt für Schritt, rückwärts gehend, den Tag zurückdenken, bis du am Morgen – wo du aufgestanden bist – wieder angekommen bist. Also: Du siehst den Moment, wo du dich ausgezogen hast so, dass du dich jetzt wieder anziehst. Dann siehst du dich ins Bad gehen, wo du dir die Zähne geputzt hast – und so bis zum Morgen fort. Solltest du darüber einschlafen, so macht das nichts. Wichtig ist nur, dass du die Kraft aufbringst, das zu wollen .
Und dann – wie ich sagte – denke wenigstens fünf Minuten jeden Tag an die Augen des Michael, mit den Worten: Ich erkenne mich im Licht – und bedenke, wie er nicht auf das Böse, auf Krankheit und Leid, sondern nach vorne in die Zukunft schaut, und stelle dir vor, dass du dich selbst in diesem Sinne trägst.“
Ich versprach ihm, dass ich mir Mühe geben wolle, und so verabschiedeten wir uns.
Die Begegnung mit dem Mörder
Als ich das Kloster verließ, hatte ich das Gefühl, einen Sherlock Holmes gesucht, und einen Mönch gefunden zu haben. Aber dieser Mönch, so gestand ich mir, hatte mir etwas ganz Entscheidendes mit auf den Weg gegeben: Einen Hinweis auf einen Raum, in welchem ich mich selbst finden konnte. - Ich spürte wohl, wie wichtig das war.
Aber eines fragte ich mich doch: Gab es nun keinen Mörder mehr, der auf mich lauerte? War das fremde Gesicht wirklich nur mein eigenes?
Mit dem Verlassen der Klostermauern, kamen auch die Zweifel wieder. Aber nicht nur die, auch die hübsche Frau war wieder da, die ich im Garten bei dem Parkplatz getroffen hatte – und an die ich mich jetzt, Gott sei Dank, wieder erinnerte.
Sie bog gerade um die Ecke, als ich den Weg vom Kloster nach Hause einschlug.
„Hallo!“ begrüßte sie mich. „Geht es Ihnen besser? Haben Sie den Menschen, zu dem das Gesicht gehört, gefunden?“
Ich blieb stehen und überlegte, was ich ihr antworten sollte. „Ja, ich habe ihn gefunden“, sagte ich nach einigem Zögern.
„Und?“ fragte sie gespannt.
„Ich bin es selbst.“
Sie schien mit dieser Antwort gerechnet zu haben, denn sie nickte und sagte: „Dann brauchen Sie ja auch keine Angst mehr zu haben.“
Wieder zögerte ich. War das so? Brauchte ich wirklich keine Angst mehr zu haben? Nein, das war nicht so. Denn ich war ja noch gar nicht wirklich überzeugt, dass das Gesicht nicht vielleicht doch einem Fremden gehörte. Da war etwas in mir, was mich noch immer sehr beunruhigte.
Читать дальше