So empfing er mich wie einen alten Freund, und nachdem wir uns begrüßt hatten, setzten wir uns an einen kleinen, runden Tisch im Gästeraum einander gegenüber. Dann fragte er mich nach meinem Anliegen und ließ sich meine Geschichte erzählen.
Ich erzählte ihm sehr bewegt von der Suche nach dem Auto, meinen Ängsten, und dem unheimlichen Gesicht, das sich mir hinter der Parkplatzmauer und hinter der Hecke gezeigt hatte. Er hörte schweigend zu und sagte dann:
„Nun, Johannes, nun bringst du mir das eben wild Vorgebrachte noch einmal in Reim form – du kannst doch reimen…“
Ich schaute ihn erstaunt an. Damit konnte ich ja nun gar nichts anfangen. Aber der, trotz seines Alters jugendlich wirkende Mann, schaute mich aus seinen ruhigen Augen freundlich an und wartete geduldig, bis ich mich gesammelt hatte. Zögernd begann ich:
Ich war der Welt und mir verloren,
Als ich aus dem Theater kam.
Dann stockte ich. Es fiel mir schwer, meine Gedanken beieinander zu halten. Aber Bruder Aurelius wartete geduldig, bis ich die nächsten Zeilen gefunden hatte.
Zum Opfer ward ich auserkoren,
Für den, der mir mein Denken nahm.
Jetzt erhob er sich von seinem Stuhl und stellte sich in die Nähe des Fensters. Seine schlanke Gestalt und sein ebenmäßiges Gesicht waren aber dort gegen das Licht für mich kaum noch zu erkennen. Ich blinzelte und fuhr fort:
Ich sah ihn nicht,
Nur sein Gesicht,
Das ihm gehört,
Und mich zerstört.
Dann schwieg ich und wartete auf seine Reaktion. Doch plötzlich meinte ich, das unheimliche Gesicht, das mich belauert hatte, in ihm zu erkennen und sprang entsetzt auf. Da trat er schnell zu mir, legte seine Hand auf meine Schulter und bat mich, mich wieder zu setzen. Dann setzte auch er sich wieder und sagte: „Sprich die Reime noch einmal, aber hintereinander weg.“
Das tat ich dann auch, obgleich ich sehr suchen musste, da ich sie schon fast wieder vergessen hatte:
Ich war der Welt und mir verloren,
Als ich aus dem Theater kam.
Zum Opfer ward ich auserkoren,
Für den, der mir mein Denken nahm.
Ich sah ihn nicht,
Nur sein Gesicht,
Das ihm gehört,
Und mich zerstört.
Da kam mir mit einem Male eine Erkenntnis. Warum hatte ich gesagt: der mir mein Denken nahm? Warum das Wort „Denken“ und nicht das Wort „Leben“? Spielte mir mein Denken einen Streich? Bruder Aurelius nickte, als er meine Gedanken sah, und sagte:
„Dein Denken ist es, dein Denken zerbricht. Du siehst es in dem Gesicht.“
Ich erschrak. „Gibt es gar keinen Fremden, der mir schaden will? Bin ich es selbst in meinem Denken? Das kann ich nicht glauben …Wie kann denn ein Denken zerbrechen?“
„Es zerbricht, wenn du es nicht mehr halten kannst“, sagte er, und fügte hinzu: „Und halten lässt es sich nur aus eigener Kraft. Deshalb solltest du mir dein Denken in Reime kleiden.“ „Das war ansträngend“, sagte ich.
„Eben“, bestätigte er, „das sollte es auch sein. Nach unter rutscht man von alleine, nach oben muss man steigen. Lerne dich zu kontrollieren, Johannes. Der Mensch ist sein eigener Herr, sein Meister, sein Dompteur, sein Wagenlenker. Er schleift sich mit sich selbst, so wie ein Diamant. Er wird nicht fremdbestimmt.“
„Auch nicht von solch einem Gesicht?“
„Auch nicht von solch einem Gesicht. Erkenne dich selbst, Johannes – und bitte, folge mir, ich möchte dir etwas zeigen.“
Die geraubten Vorstellungen
Mit diesen Worten führte er mich in den Ostteil des Klostergebäudes, wo sich eine Kapelle befand. Aber schon auf dem Wege dorthin ging es wieder los.
Das Gesicht war wieder da. Es war wieder da, und es war ein dunkles Gesicht. Es war ein Gesicht mit einem unendlichen Schmerz. Es riss mich mit sich mit.
Und plötzlich waren das Kloster, der Mönch und alles, was ich gerade erlebt hatte, verschwunden und meine Kindheit stand vor mir. Aber unzusammenhängend und in einzelnen Rudimenten. Es gab keine logische Verbindung zwischen den einzelnen Wahrnehmungen.
Da sah ich mich auf der Schulbank sitzen - mit den Spielautos im Sand spielen - auf der Klassenfahrt im Gebirge auf Steinen balancieren… bis mich ein Herr in einem eigenartigen Outfit ansprach und mich aufforderte, mich zu besinnen. Ich war besonnen und sagte ihm, dass ich jetzt keine Zeit für ihn habe, sondern zu der Versammlung von Herren müsse, die schon viel zu lange auf mich gewartet hätten. Ich sagte ihm, dass es mich gefreut habe, und dass er mich jetzt aber bitte alleine lassen müsse.
Doch als ich ihn genauer anschaute, grinste mich schon wieder das Gesicht meines Mörders an. Jetzt musste ich handeln. Ich nahm all meine Kraft zusammen und schlug auf dieses Gesicht ein, bis ich einen Schlag bekam, der mich zu Boden streckte…
Zum Glück nur, dass in diesem Moment mein Freund Bruder Aurelius zugegen war. Er half mir auf und säuberte mich von dem Staub des Bodens.
„Warum bin ich schmutzig?“ fragte ich.
„Du bist gefallen“, sagte er nur und führte mich still weiter.
So kamen wir zu der Kapelle des Klosters. Am Eingang befand sich ein lebensgroßes Bild des Erzengels Michael. Vor diesem Bild blieben wir stehen.
„Oh“, sagte ich erstaunt, „ich erkenne es, ich habe es gemalt.“
Bruder Aurelius lächelte und sagte höflich: „Dann sag mir doch bitte, was es bedeutet.“
Ich betrachtete das Bild und war überfordert. Fühlte mich in diesem Moment aber auch wie in einem geistigen Vakuum.
„Das weiß ich nicht mehr“, sagte ich.
„Dann betrachte es einfach nur“, sagte er, und ich betrachtete es. Es zeigte den Erzengel in einem strahlenden Licht mit einem Kleid aus Silber und Gold. Mit der linken Hand griff er in den Himmel - und mit der rechten Hand, die ein Schwert hielt, hielt er einen sehr teuflisch aussehenden Menschen in Schach. Dabei schaute er diesen Bösen nicht an, sonder blickte auf mich mit einem Blick, der mich aufrief, ihm Rede und Antwort zu stehen – der aber auch gleichzeitig gütig und vergebend war. So stand er im Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle. Aber ich wusste nicht warum.
Doch eines wusste ich plötzlich und erschrak: Das Gesicht des Bösen, den Michael bezwang, war das Gesicht, das ich vorher gesehen hatte. Ja, das war es, das Gesicht …
Da sagte Bruder Aurelius: Schau, Johannes, schau auf die Augen des Engels:
Die Augen schauen nicht das Böse,
Auch nicht auf Krankheit, Tod und Schmerz.
So überwinden sie das Böse,
Und führen dich ins eigene Herz?“
Ich schwieg, schaute auf seine Augen und überlegte, was ich dazu sagen sollte – da fuhr er fort:
„Du darfst dir das fremde, dunkle Gesicht, das dich belastet, nicht mehr vorstellen. Du musst es einfach ignorieren und dir stattdessen etwas Gute, Positives, Schönes vorstellen – wie hier die Augen des Michael. Früher stellte sich der Mensch noch vor, was er sah. Heute lässt er sich zeigen, was er vorstellen soll. Dabei ist der Mensch das einzige Wesen, das Vorstellungen haben kann. Nur er hat die Möglichkeit sich selbst gedanklich in die Hand zu nehmen – eben im Vorstellen. Aber gleichzeitig ist dieses Vorstellen ein zweischneidiges Schwert. Wer sich einen Mord vorstellen kann, ist auch in Gefahr, ihn zu begehen, und wer sich kein göttliches Sein vorstellen kann, wird auch nie an ein Göttliches glauben. Du siehst, Johannes, im Vorstellen sind wir ganz wir selbst und zur gleichen Zeit angreifbar. Wer unsere Vorstellungen besitzt, besitzt auch uns. Mit dem Genuss vom Baum der Erkenntnis, hat Luzifer dem Menschen die Kraft der Vorstellung geschenkt. Aber wir dürfen sie ihm nicht blind überlassen, denn wer unsere Vorstellungen beherrscht, beherrscht auch uns.“
„Und wie kann ich meine Vorstellungen beherrschen?“ fragte ich und hatte doch Mühe seinen Gedanken zu folgen.
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