In wenigen Worten hatte Tommy dem Freund die Lebensgeschichte des Mannes geschildert und fügte nun abschließend die Bemerkung hinzu: »Ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er sich jetzt sein Leben so angenehm wie möglich macht.«
Der herrliche Sommerabend verleitete die beiden Freunde zu einem Strandspaziergang. Obwohl Dick nur hin und wieder ein Wort einwarf, plauderte Tommy dennoch unverdrossen von diesem und jenem und hatte eben eine bildreiche Darstellung einer seiner Jagden begonnen, als er plötzlich Dick am Ärmel zupfte.
»Dort kommt sie!«
Dick blickte auf. Ihnen entgegen kam in der einfachen Tracht einer Krankenpflegerin ein Mädchen, dessen Schönheit, wie er mit einem einzigen Blick feststellen konnte, tatsächlich außergewöhnlich war. Ehe er sich von seiner Bewunderung erholt hatte, war das Mädchen schon an den beiden Freunden vorübergeschritten.
»Nun?« – unterbrach Tommy den Freund.
»Ohne Zweifel ist sie hübsch.« Es war Dick klar, daß dieses kühle Urteil der klassischen Schönheit der jungen Dame bei weitem nicht gerecht werden konnte.
»Stell dir vor, geliebter Polizist«, begann nun Tommy erneut seine Hymne, »daß sich eine derartige Schönheit als Krankenpflegerin vermietet. Ist das nicht entsetzlich? Im dumpfen, heißen Zimmer jede Laune und Grille eines alten, klapprigen Mannes aushalten zu müssen? Mein Gott, welch ein Dasein! Den ganzen Tag muß das arme Ding neben einem Kinderwagen – ich meine natürlich Krankenwagen – herlaufen und aufpassen, daß der arme Kranke nicht niest. Kannst du dir das vorstellen? Nicht wahr, nein?! Aber ist sie nicht eine wirkliche Perle?«
»Ja, darin kann ich dir zustimmen, Tommy. Wie heißt sie? Ach so, du weißt das nicht ... Oder hast du dich heute etwa schon bemüht, es zu erfahren?«
»Natürlich. Ich war ja überzeugt, daß auch du vor Neugierde brennen würdest, mehr von ihr zu wissen. Ich bin zwar auch erst seit ein paar Stunden da, aber ich habe doch meine Detektiveigenschaften spielen lassen und kann dir daher alles, was du wissen willst, mitteilen. Sie heißt Mary Dane! Mary – Dane –!« Er sprach den Namen aus, als genösse er jede Silbe. »Mary Dane? Klingt das nicht wie aus einem Tonfilm herausgeschnitten?«
»Wie hast du denn den Namen so schnell festgestellt?« erkundigte sich Dick überrascht.
»Indem ich den Stier ganz einfach bei den Hörnern packte«, gab Tommy zu. »Ich bin dort hingegangen, wo sie wohnt, und habe mich nach ihr erkundigt. Der alte Herr, der das Glück hat, den ganzen Tag in ihrer Gesellschaft sein zu dürfen, heißt Cornfort. Sein Dasein verbringt er in Badeorten, von denen er alle möglichen aufsucht. Einmal habe ich mit dem Mädchen sogar gesprochen: Ich wünschte ihr ›guten Morgen‹.« Er strahlte den Freund siegessicher an.
»Und was erwiderte sie auf deine Unverschämtheit?« fragte Dick prosaisch.
»Pfui, Dick! Warum eifersüchtig? Was sie sagte? Natürlich erwiderte sie holdselig lächelnd meinen Gruß. Ich war zwar im ersten Augenblick so platt, daß ich kein weiteres Wort hervorbringen konnte, aber fest bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sie meinen Gruß erwiderte. Sie ist eine wirkliche Dame, das verriet mir schon ihre Ausdrucksweise, als sie meinen Gruß zurückgab. Die Worte kamen wie Schlagsahne aus ihrem Munde.«
Obwohl Staines über die bildhafte Schilderung Tommys lachen mußte, konnte er doch nicht umhin, dessen Begeisterung berechtigt zu finden. Sie bummelten noch ein paar Stunden hin und her, ohne sich selbst zuzugeben, daß sie es nur in der Hoffnung taten, der schönen Krankenpflegerin noch einmal zu begegnen. Als es dunkel wurde, mußten sie den ergebnislos bleibenden Spaziergang abbrechen und begaben sich ins Hotel zurück. Um sich von den Anstrengungen des langen Spaziergangs zu erholen, hatten sie sich gerade im Rauchzimmer bei Whisky und Soda niedergelassen, als auch Derrick hereintrat und sich auf ein kurzes Nicken Tommys an ihrem Tisch niederließ.
»'n Abend, meine Herren«, begrüßte er sie. »Wenn ich Lord Weald nicht sehe, ist mir immer, als fehle mir mein zweites Ich. Wir sind die reinen siamesischen Zwillinge; sogar unsere Häuser in London sind Zwillinge. Brighton ist nicht groß genug, uns zu trennen.« Er belachte seinen eigenen Witz und bestellte sich eine Erfrischung. Dann wandte er sich an Dick: »Nun, Herr Inspektor Staines, was hat Sie nach Brighton getrieben? Beruflich? Nein? Sie wundern sich wohl, daß ich Sie kenne, wie? Nun, ich habe Sie schon oft im Gerichtssaal gesehen, wo Sie als Zeuge auftraten. Ich bin ziemlich oft zu Verhandlungen gegangen, weil ich mich für kriminalistische Fragen lebhaft interessiere. Ich scheine diese Eigenschaft von meinem Vater geerbt zu haben. Meine Büchersammlung über Kriminaltechnik steht in ihrer Reichhaltigkeit in England wohl einzig da.«
Tommy schien die Zeit gekommen, Derrick über sein Freundschaftsverhältnis zu Staines aufzuklären.
»Dick und ich sind Studienfreunde, Mr. Derrick«, sagte er. »Sie sehen in ihm ein Schulbeispiel, wie tief ein Mensch sinken kann. Polizist zu werden! Ist das nicht schrecklich?«
Derrick schien, durchaus keine Lust zu haben, auf den scherzenden Ton einzugehen.
»Eigentlich merkwürdig«, richtete er seine Worte weiter an Dick, »daß wir uns heute Abend hier kennenlernen. Vor wenigen Tagen erst fiel während einer Unterhaltung mit einem Freund auch Ihr Name. Wir unterhielten uns über den berühmten Mord von Slough, dessen Sie sich wohl kaum werden erinnern können, Mr. Staines. Ich hielt mich damals gerade in Südafrika auf, und Zeitungen erreichten mich nur in unregelmäßigen Zeitabständen. Der Mann, der den Kassierer der Textilgesellschaft von Slough am hellichten Tage auf offener Straße erschoß und beraubte, wurde, wie mein Freund behauptete, niemals ergriffen, während ich gegenteiliger Ansicht war. Ich glaubte, in der Zeitung gelesen zu haben, daß er verurteilt und hingerichtet worden ist. Der Fall liegt etwa zehn Jahre zurück.«
»Ja, am selben Tag, als ich zur Polizei kam, ereignete sich das Verbrechen«, gab Dick zurück. »Nein, Mr. Derrick, den Täter hat man noch nicht. Allerlei Spuren, ja; aber ihn selbst, nein.«
»Hatte man nicht auf dem Revolverlauf, mit dem der arme Kassierer niedergeschossen worden war, den Abdruck eines Daumens gefunden? Nicht wahr, so war es? Ich erinnere mich jetzt wieder an die Einzelheiten. Ich war mir nur nicht ganz klar, ob man den Täter ergriffen hatte oder nicht.«
»Das Schlusskapitel dieses brutalen Verbrechens ist noch lange nicht geschrieben«, meinte Dick.
»Das heißt also, daß ich meine Wette verloren habe«, stellte Derrick nachdenklich fest. »Ich hätte schwören mögen, daß ich im Recht war. Mag sein, ich habe diesen Fall mit einem andern verwechselt. Sie wundern sich, warum ich mich für derartige Fälle so interessiere? Nun, ich sagte Ihnen ja schon, daß ich dieses Interesse wohl von meinem Vater geerbt haben muß; er war ja, wie Sie vielleicht wissen werden, der Besitzer einer der komplettesten Fingerabdrucksammlungen der ganzen Welt. Er war nämlich sein ganzes Leben lang der Meinung, daß die Theorie, wonach es keine zwei sich völlig gleichenden Fingerabdrücke gäbe, falsch sei. Er stützte sich darauf, daß ja die Polizei nur die Abdrücke derjenigen Leute habe, die einmal mit ihr in unangenehme Berührung gekommen waren. Die Millionen anderen – und das ist die Mehrzahl –, die ihr Dasein verbringen und beenden, ohne jemals mit der Polizei in Konflikt gekommen zu sein, hätte man bei dem jetzt üblichen Verfahren überhaupt nicht erfassen können. Mein Vater bestach Fabrikwerkmeister, Geschäftsführer und auch Arbeiter, ihm die Fingerabdrücke ihrer Kollegen zu liefern, die er dann sorgfältig registrierte. Als er endlich durch den Tod seine Aufgabe unerfüllt lassen mußte, fiel die ganze Sammlung als Erbschaft mir zu.«
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