Das ältere Kleinstadt-Publikum verweilte zunächst an den Biertischen, die die Innenstadt füllten und wackelte zunächst verhalten mit. Immerhin klatschte es artig Beifall, gab sich jedoch zunächst lieber verstärktem Bierkonsum aus den bayernüblichen
1-Liter-Krügen hin. Verständlich – denn schliesslich heizte an diesem Tag die Sommersonne mit reichlich über 30 Grad den festlichen Marktplatz gnadenlos auf. Die Bühne mit ihren dunkelblauen Kunststoffwänden und gleichfarbigem Regendach wurde bei diesen tropischen Temperaturen zu einer richtigen Bio-Sauna für Rolli und seine Kollegen.
Musizierende Schnell- und Vielschwitzer können am ehesten nachempfinden , dass die Koordinationsarbeit beim Musikmachen, also dem aufeinander abgestimmten Singen und gleichzeitigem Instru-mentspielen in Verbindung mit rhythmischen Körperbewegungen eine verstärkte Schweisspro-duktion hervorruft. Und so fühlen sich Musikerhemden schon bei Zimmertemperatur nach einem zweistündigen Konzert meist duschgetränkt nass an. An diesem heissen Sommernachmittag in der plastikeingehausten Bühne kam es jedoch zu wahren Transpirations-Wasserfällen. Schon nach wenigen Minuten spürte Rolli die Schweissströme vom Haupthaar förmlich in Sturzbächen zwischen der Rückenmuskulatur sich in Richtung Gesässschlitz bewegen. Wo sie sich dann, fast wie die rauschende Stromschnelle eines Gebirgsflusses an den Sockenrändern aufzustauten wie volle Regenkanäle bei einem Wolkenbruch. Anstelle eines Taschentuches wäre eher ein Stoffstück in der Grösse eines Bettlakens hilfreich zum Abtrocknen gewesen, um die salzigen Schweissströme aus den Augen, vom Hals und Nacken zu wischen.
Dennoch war es ein besonderes, unvergessliches Erlebnis für Rolli. Der Auftritt auf dem Marktplatz dieser Stadt vor grossem Publikum hatte für ihn noch eine ganz andere, sehr intensive, persönliche Dimension. Während er an diesem Nachmittag mit seinen Darbietungen die anwesenden Gäste zum Klatschen und Lachen brachte - und was für ihn noch viel wichtiger war, seinen eigenen Körper durch die himmlischen Sphärenklänge der Musik in positive Schwingungen versetzte – weckte Rollis Erinnerung an vergangene Jahre und diese Stadt durchaus auch gemischte Gefühle. Denn schliesslich war hier auch eine zweifelhafte ‘Berühmtheit’ zu Hause, nämlich das BKH – das Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie. Doch davon soll später noch die Rede sein.
Auf dem Weg zum Silversurfer
Erfreulicherweise haben ja die wenigsten Renten-anwärter ihre Gesundheit oder gar ihr Leben auf dem Altar der Berufskarriere geopfert. Geschürt durch aufreibenden Kleinkrieg mit dauerfordernden Kunden, ständig optimierungsorientierten Vorgesetzten oder Mitarbeitern mit völlig anderen Prioritäten in ihrer Lebenszielplanung als ihre Führungskräfte fordern ihren beruflichen Tribut. Und dann steht man eines schönen Tages am Ende dieses Arbeitslebens und ist plötzlich vor einer anderen, gewaltigen Aufgabe angelangt: der Neuorientierung durch vorgezogenen oder regulären Ruhestand. Nun wird man in unseren Tagen ja nicht mehr alt - man mutiert zum ‘Silversurfer’ oder wird zum Mitglied der ‚Generation 50Plus‘.
Endlich Zeit für die Familie! Ach, du lieber Himmel! ‚Papa ante portas‘ lässt grüssen. Oder wenigstens für die Enkel. Wenn man schon das Aufwachsen der eigenen Kinder aufgrund von Dauerüberstunden wegen Bausparverpflichtungen fürs Eigenheim, Mercedes-Raten oder schlicht übersteigertem Berufsego überwiegend verpasst hat.
Da gibt es dann Jungsenioren, die sich in diesen veränderten Zeiten in dubiose, enkelaltrige Jungblondinen-Abenteuer stürzen, während andere die Orchideen- oder Bienenzucht als neuen Lebenssinn entdecken. Und manche verfallen gar in eine bleierne Agonie, eine Art dumpfe Todessehnsucht.
Summa sumarum - es gibt keinen Zweifel – der Lack scheint ab.
Auch Rolli hat das Gröbste seines Arbeitslebens hinter sich. Oder in Zahlen und Fakten ausgedrückt: Rolli ist jetzt sechzig und gehört damit zu den Vorruheständlern. Eigentlich heisst Rolli ja Roland. Doch seit Menschengedenken nennen ihn Familie, Freunde und Bekannte einfach Rolli. Dabei weiss niemand so recht, ob er sich selbst dieses Kürzel verordnet oder ob es ihm jemand als Koseversion verliehen hat. Vielleicht schämt er sich ein bisschen seines vollen Namens Roland, den der berühmte kriegerische Namensvetter auf dem Bremer Marktplatz trägt: die über 700 Jahre alte steinerne Roland-Statue.
Möglich wäre auch, dass das Kürzel ‚Rolli‘ mit seiner barocken Erscheinung zu tun hat. Denn immerhin verteilen sich stolze 110 Kilo auf eine vielleicht etwas zu geringe Körpergrösse von lediglich 1 Meter und achtundsiebzig. Seine daraus resultierende Art der Fortbewegung wird daher von manchen seiner Mitmenschen mehr als rollend, denn als gehend wahrgenommen.
Doch egal ! Warum sich jetzt noch gross verbie-
gen – Rolli ist und bleibt Rolli, mit Hingabe und aus Überzeugung. Denn schliesslich kann er trotz seiner fortgeschrittenen Jugend voller Freude und Selbstbewusstsein in die Zukunft blicken. Rollis Lebenselexier seiner Drittzähne-Zeit ist weder weiblich, jung und blond, noch ist er Phaleonopsis-Orchideenkult-Huldiger und auch kein Apistik-Jünger, also Anhänger der Bienenzucht. Ihn lähmt auch nicht der bleierne Druck einer Altersdepress-ion, die Geist und Knochen zermürbt. Seine Hin-gabe und Leidenschaft pendelt zwischen Dur und Moll – er liebt und lebt die Musik. Und das Musikmachen.
Vor kurzem durchflutete ihn deswegen sogar eine gewaltige Portion Stolz, die andere vielleicht bei der Verleihung von Urkunden oder Orden empfinden.
„Hallo, Ihr Hübschen!’, flötete Rolli im Vorbeigehen seiner 11-jährigen Grossnichte Anja und deren Freundin zu, die sich gerade abmühten, ein Einrad zu besteigen. Für ihn eines der letzten Sportgeräte-Mysterien, das er nie beherrscht hat.
Und noch während Rolli um die Nachbarhausecke bog, hörte er Anja zu ihrer Freundin sagen: ‘Du das war der Onkel von meinem Papa. Und der spielt Rock’n’Roll !’
„War das jetzt ein Kompliment oder eher die Beschreibung einer Verhaltensstörung?“, dachte Rolli kurz über Anjas Bemerkung nach. Zur Stabilisierung seines Ego entschied sich für Ersteres, also für das Kompliment. Denn wer spielt schon im Frühling aufkommender Gedächtnisschwäche oder der am Horizont drohenden Inkontinenzhöschen noch Rock’n’Roll-Musik in einer Band ?
Warum deshalb also Schamröte entwickeln ?
Auch Anjas Vater, Rollis Neffe Michael und dessen Frau war bewusst, dass dieser Onkel Rolli so ganz anders als andere Onkel war. Deshalb verliehen sie ihm anlässlich eines runden Geburtstages eine Art Würdentitel – nämlich den des ‘Fertigen Onkels’. Geschickt liess es dabei der Neffe Michael offen, welche Wortbedeutung von ‘fertig’ damit gemeint war: das ‘fertig’ im Sinne von ‘komplett, beendet, abgeschlossen’ oder das ‘fertig’, mit dem gelegent-lich ‘kaputt, erledigt, verrückt’ umschrieben wird. Wie kaum anders zu erwarten, nahm auch hier Rolli bei der Interpretation seines neuen Titels ‘Fertiger Onkel’ die erste, positive Version für sich in Anspruch. Und dieser Titel begleitet ihn im Fami-lienjargon noch heute.
Rolli empfindet ohnehin den Jugendwahn unserer Zeit in erster Linie als eine Erscheinung der Werbewerte-Gesellschaft, wo man Alter in erster Linie über Gebissreiniger, Rheumasalben und Betreutes Wohnen definiert.
Ganz anders als zum Beispiel in exotisch-orient-alischen Gesellschaften. Dort sieht man Alter meist in Verbindung mit Weisheit und Respekt. Rolli denkt dabei besonders gerne an seinen türkischen Freund Ismail, der ihm einst beim Anblick von Rollis ergrau-tem Bart das türkische Wort ‚Aksakal‘ erklärte. „Bei uns bedeutet ‚Aksakal’ etwa ‚Weissbart‘ und man meint damit einen ’ehrwürdigen, alten Mann‘. So nennt man im türkischen Sprachraum auch oft den Dorfältesten.’, klärte ihn Ismail auf. Beim Gedanken an den ‚Aksakal‘ sieht sich Rolli dann manchmal an einem sonnigen Plätzchen beim Teetrinken in einem westanatolischen Pfirsichhain sitzen, Wasserpfeife rauchen und zwischendurch liebevoll eine Baglama - die türkische Laute - mit den Fingern zupfen.
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