„Denk einmal nach, Robert! Murray – dein Großonkel, wohlverstanden! – ist Jakobit. Für unser gegenwärtiges Regime hat er nur Hass und Verachtung übrig. Deshalb ist ihm jedes Mittel recht, dieses Regime zu untergraben, um es schließlich zu stürzen. Das beweist nicht zuletzt der Name seines Schiffes: `König Jakob´. Dieser Name ist ein politisches Bekenntnis!“
„Wenn er wirklich der Mann ist, für den du ihn hältst!“, wandte ich ein, nicht gerade erfreut über den Gedanken, einen Seeräuber zum Großonkel zu haben.
„Ich kenne deine Gefühle, mein lieber Junge. Genauso hat deine Mutter gesprochen. Gott segne sie!“ Mein Vater machte eine kurze Pause und fuhr dann nachdenklich fort: „Als sie gestorben war, kam ein Bote zu mir und brachte einen Brief. Dein Großonkel sprach mir sein Beileid aus zu dem Verlust der unvergesslichen Frau, die wir beide über alles verehrt hatten! In diesem Augenblick hätte ich ihn am liebsten erwürgt – das gebe ich offen zu. Wären ihm nämlich seine Pläne geglückt, so hätte er sie mit einem Franzosen, einem richtigen Satansbraten, verheiratet. Doch auf seine Weise sorgte er sich um sie und nahm großen Anteil an allem, was sie tat. Wenn ihn seine Irrfahrten auch noch so weit in die Ferne führten – er hatte immer Nachrichten von uns.“
„Wieso?“
„Der Teufel weiß wie! Er wusste zum Beispiel, wann du geboren wurdest. Er wusste, wann sie starb. Und nun, da du zum Mann herangewachsen bist, zeigt er sein Segel vor Sandy Hook. Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet, Robert, aber es gefällt mir nicht. Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht!“
„Jo, richtig“, stimmte Peter zu. „Wenn Murray hier is, plant er nichts Gutes. Keine Seeräuber kommt bei diesem kalten Wetter bloß für die Spaß nach Norden. Nee, nee… Hier is es zu brenzlig für dieses Pack. Hier kann man nirgendwo verschwinden und sich verstecken.”
“Ein kluger Feind wägt alles ab, bevor er sich auf ein Wagnis einlässt”, erklärte mein Vater. „Hoffentlich lässt uns das Glück nicht im Stich! Ganz gleich, was Murray auch im Sinn hat – er wird es fuchsschlau durchführen, um uns zu überraschen.“
Der Einbeinige und das irische Mädchen
Am nächsten Morgen überprüfte ich mit Peter Corlaer, welche Waren wir für unsere Handelsniederlassung brauchten. Das dauerte mehrere Stunden, so dass ich erst am späten Vormittag das Konto verlassen konnte, um an Bord von Kapitän Farradays Schiff zu gehen und die Löschung der Frachtstücke für unser Lagerhaus zu besprechen.
Als ich nach meinem Hut griff, schaute mich Darby McGraw so bittend an, dass ich ihn in die Küche schickte, um eine Tasche voll frisch geschlachteter Hühner und Wintergemüse zu holen. Matrosen, die eine lange Seereise hinter sich hatten, waren für solche Nahrungsmittel immer besonders dankbar.
„Darf ich sie selbst zum Schiff tragen, Master Robert?“, fragte mich der Junge.
„Von mir aus. Wir gehen gleich los.“
Er freute sich darüber, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht. Vergnügt trabte er immer ein paar Schritte voraus und trällerte ein Seemannslied.
Wir gingen die Pearl Street hinunter zur Broad Street, wo die Anlegestelle ins Land hineinspringt. Von dort aus schritt ich weiter, um mich am Ende der Whitehall Street mit einer Jolle zum Bristoler Postboot hinausrudern zu lassen, als Darby meine Aufmerksamkeit auf die hochragenden Masten und das verwickelte Tauwerk eines großen Schiffes lenkte, das am Landungsplatz des East River vor Anker lag.
„Das ist ’ne Fregatte, Master Robert!“, rief er.
Es war tatsächlich ein Kriegsschiff, wie die Reihen bemalter Kanonenluken und die festen Relings bewiesen.
Darby war Feuer und Flamme, und seine Augen blitzten abenteuerlich, als er flüsterte:
„Glauben Sie, dass es hinter den Piraten her ist?“
„Keine Spur“, antwortete ich lachend. „Das ist ein Spanier. Der lechzt nicht nach Piratenblut, Darby. Aber sieh doch! Da liegt noch ein anderes fremdes Fahrzeug: eine Brigg.“
Ich zeigte auf einen stark mitgenommenen kleinen Zweimaster mit geflickten und schmutzigen Segeln und einem Einschuss auf dem schwarz bemalten Rumpf.
„Die Brigg hat bestimmt was von den Seeräubern abbekommen“, fügte ich hinzu. „Sie kann ihnen gerade nur um Haaresbreite entwischt sein.“
Darbys Augen weiteten sich wie Katzenaugen im Dunkeln. “Donnerwetter noch mal, was die für ein Loch in der Flanke haben! Das ist bestimmt nicht von einer kleinen Kanonenkugel! Die da auf der Brigg werden ganz schön in die Hose gemacht haben, Junge, Junge! Lachen Sie mich jetzt immer noch aus, Master Robert, wenn ich sage, dass Seeräuber vor der Küste kreuzen?“
„Nein, Darby, bestimmt nicht. Diese Burschen waren dem Tod näher, als ihnen lieb war.“
„Da haben Sie vollkommen recht, junger Herr!“, erklärte eine angenehme Stimme hinter mir. „Ganz erstaunlich, dass eine Landratte wie Sie das sofort erkennt – wirklich!“
Mit einem Ruck drehte ich mich um und erkannte einen gut aussehenden, offen dreinblickenden Mann im besten Alter mit einem massigen, kräftigen Körperbau. Es fehlte ihm jedoch das linke Bein, das nahe der Hüfte amputiert war. Deshalb stützte er sich auf eine lange Krücke aus fein geschnitztem Hartholz. Es war Mahagoni, wie ich später feststellte. Diese Krücke benutzte er so geschickt wie ein lebendiges Glied. Eine Schnur, die unter der Armgabel durch ein Loch lief, hing mit einer Schlinge um seinen Hals, so dass die Krücke nie aus seinen Händen gleiten konnte, wenn er sich hinsetzte. In ihre Spitze war ein scharfer, stählerner Stachel eingesetzt, wahrscheinlich damit die Krücke auch auf einem schiefen und schlüpfrigen Deck nicht ausrutschen konnte.
Während ich ihn betrachtete und er noch sprach, humpelte er an meine Seite – mit einer vertraulichen, einschmeichelnden Miene, die Darby noch stärker beeindruckte als mich.
„Ja, wir waren schön in der Patsche“, fuhr er fort, „und ich bin einer von denen, die der Himmel so wunderbar errettet hat.“
„Sind Sie von der Brigg da drüben?“, fragte ich neugierig.
„Klar, junger Herr, so wahr ich vor Ihnen stehe!“
„Woher kommen Sie denn?“
„Von Barbados auf der Brigg ` Konstanze ´. Ich heiße Silver, Sir. John haben mich meine Paten getauft. Aber meine Kameraden nennen mich meistens `Bratrost`, weil ich als Koch erster Klasse gelte.“
„Sind Sie früher schon mal mit Seeräubern zusammengestoßen?“
„Und ob!“, entgegnete er und senkte die Stimme, als er auf sich selbst deutete. „Sehn Sie sich nur mal diesen schiefen, wackligen Leichnam an! Unverkennbar ein Einbeiniger, stimmt’s?“
Ich nickte.
„Und wie, glauben Sie, habe ich meine linke Flosse verloren, he?“, fuhr er fort.
„Ich weiß nicht…“
„Nun, dann will ich’s Ihnen erzählen, Sir“, sagte John Silver. „Sie haben ein junges Gesicht – und ein freundliches dazu. So ein Mensch wie Sie nimmt Anteil an Not und Sorgen eines unglücklichen Seemanns… Ja“, bestätigte er noch einmal mit einem Blick auf Darby, „und dieser gute Junge da auch.“
„Stimmt, Sir“, erwiderte Darby. „Ich möchte selbst gern Seemann werden.“
„Irländer, nicht wahr, mein Bürschchen?“
„Erraten!“
„Ja, das hab ich doch gleich gewusst. Auf den ersten Blick!“
Darby strahlte vor Stolz.
„Was wollte ich noch sagen…?“, fragte Silver, indem er sich an die Stirn griff.
„Wie Sie Ihr Bein verloren haben“, half ich.
„Ach ja, ich bin froh, dass es nicht meine Pfote war, die da zum Teufel ging.“
„Warum, Sir?“, wollte ich gern wissen.
„Weil der Mensch ein verlorenes Bein wieder ersetzen kann, das zu nichts weiter nütze ist außer zum Gehen. Aber ’ne Hand…? Denken Sie bloß mal darüber nach, mein Herr! Ohne Hand können Sie nicht arbeiten, nicht fechten, sogar kaum essen. Deshalb sag ich ja, dass ich Glück hatte.“
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