Zusammen gingen Großvater und Lilly dem Ufer der Spree entlang, bis zur Straße. Von dort aus folgten sie der Straße von der Brücke weg. Sie kamen an Geschäften mit Andenken vorbei, Gruppen schwatzender Touristen und großen Figuren aus Plastik, mit denen sich die Touristen fotografieren konnten. Lilly schnappte Englisch und Spanisch auf, doch die Leute redeten so durcheinander, dass sie nichts verstehen konnte.
Sie hob den Blick. Ein Stück weit vor ihnen erhob sich der riesige Fernsehturm in den Himmel. Die Wolken, die über ihm über den Himmel zogen, bewirkten, dass es aussah, als ob er gleich umfallen würde und schnell schaute Lilly wieder auf den Boden.
Ein Stück weiter kamen sie an einen Zebrastreifen. Großvater blieb stehen und Lilly zog erneut ihren neuen Fotoapparat hervor, um das rote Ampelmännchen zu fotografieren, das so anders aussah als das zu Hause. Jetzt waren sie tatsächlich auf ihrem Abenteuer.
Lilly ließ sich sogar noch Zeit, auch das grüne Ampelmännchen zu fotografieren, bevor sie mit Großvater die sechs Spuren der Straße überquerte.
Auf der anderen Seite wanderten sie ein bisschen durch den Park, und Großvater zeigte ihr die großen Skulpturen, die in dessen Mitte standen. Anschließend liefen sie hinüber, auf den Alexanderplatz und suchten sich eine U-Bahn, die sie zum Gendarmenmarkt brachte.
Dort schlenderten sie die Straßen entlang, bis Großvater vor einem kleinen Geschäft stehen blieb. Er beugte sich zu Lilly hinunter.
„Hier drin kann man Gerüche sammeln. Hast du Lust?“ Lilly nickte aufgeregt und sie betraten den Laden.
Drinnen roch die Luft süß nach Schokolade. Genießerisch sog Lilly den Duft ein und verankerte ihn in ihrem Gedächtnis. Überall auf den Regalen lag Schokolade. Milchschokolade, braune Schokolade, weiße und schwarze Schokolade und Lilly entdeckte sogar ein Gebilde, das Berlin darstellte. Staunend betrachtete sie es eine Weile, während Großvater einige Tafeln Schokolade aussuchte.
Als sie den Laden wieder verließen, war es schon spät am Nachmittag. Sie nahmen die U-Bahn zurück zum Hotel und stiegen am Brandenburger Tor aus. Eine Weile schlenderten sie noch auf dem Platz herum; mehr als einmal musste Großvater einen aufdringlichen Bettler abwimmeln, als Lilly plötzlich auf etwas aufmerksam wurde. Sie packte Großvater am Ärmel seiner Jacke und zog ihn mit sich, immer schneller, bis sie unter dem Tor standen.
An einen Pfahl war ein zotteliger, brauner Hund gekettet. Lilly kniete sich nieder und streichelte ihn. Neugierig schnüffelte der Hund an ihrer Hand und an ihrer Jacke, als erwartete er, dort etwas zum Essen zu finden.
Inzwischen hatte sich auch Großvater hingekniet und strich dem Hund über den Kopf. Vorsichtig tastete er nach dem Halsband und fand daran einen zusammengerollten Zettel. Er zeigte ihn Lilly.
„Sieh mal. Der Kleine ist ausgesetzt worden.“
„Können wir ihn mitnehmen? Hier verhungert er doch“, bettelte Lilly. Großvater dachte einen Moment nach, dann nickte er.
„Also gut. Aber nur, wenn du auch gut auf ihn aufpasst.“ Lilly bejahte ernst. Schnell band sie den Hund los und griff nach dem Faden, der als Leine diente.
„Er soll Holly heißen“, meinte sie nach kurzem Überlegen.
Die drei machten sich auf den Weg zurück zum Hotel. Der Page, der auch schon den Bus in die Garage gefahren hatte, staunte erneut, als er den alten Mann und das Mädchen mit dem Hund herein kommen sah. Doch er sagte nichts. Großvater bestellte an der Rezeption etwas Wasser und Hundefutter, dann gingen die drei in ihr Zimmer.
Am nächsten Morgen machten sie sich früh auf den Weg. Großvater und Lilly kauften in einem Geschäft für Tierzubehör eine Leine, einen Kamm und Hundekuchen, dann machten sie sich wieder auf, durch die Stadt. Großvater wollte Lilly etwas zeigen.
Wenig später erreichten die beiden einen großen, offenen Platz. Lilly staunte. Auf dem Platz waren überall große und kleine Steinquader aufgestellt.
„Was ist das?“, wollte sie wissen.
„Das ist das Stelenfeld. Es ist ein Mahnmal und soll an all die Juden erinnern, die im zweiten Weltkrieg gestorben sind. Die Steine bewirken, dass man sich ganz einsam fühlt, wenn man durch sie hindurch geht.“
Lilly machte sich auf den Weg durch die Steine. Anfangs konnte sie noch über sie hinweg sehen, doch je weiter sie in das Stelenfeld vordrang, desto höher wurden die Steine, und desto kleiner fühlte sie sich. Sie war froh, Holly dabei zu haben.
Ab und zu lief sie Großvater über den Weg, der sie jedes Mal anlächelte, aber sonst blieb sie allein.
Nachdem sie das ganze Feld mindestens einmal abgeschritten hatte, suchte sie sich einen Weg ins Freie, wo Großvater bereits auf sie wartete.
„Möchtest du noch in das Museum gehen? Es ist gleich hier unten.“ Und er zeigte auf eine kleine Gruppe von Menschen, die vor einer Absperrung standen und darauf warteten, eine Treppe hinunter gelassen zu werden. Lilly nickte und die beiden stellten sich hinten an.
Der Mann, der sie herein ließ, schüttelte den Kopf, als er Holly sah.
„Hier dürfen keine Hunde rein.“ Ein bisschen ratlos sah Großvater Lilly an. Doch diese überlegte nicht lange.
„Sie werden auf ihn aufpassen, bis wir wieder da sind“, stellte Lilly fest und dieser konnte gar nicht anders als zuzustimmen. Er nahm Holly an der Leine und band ihn neben sich an die Absperrung.
„Wir kommen bald wieder, Holly“, flüsterte Lilly dem Hund noch zu, dann stieg sie hinter Großvater die Treppe hinunter. Unten musste Großvater seine Tasche auf ein Fließband legen und sie mussten hintereinander durch einen schmalen Bogen gehen.
„Damit niemand ein Messer mit hinein nehmen kann“, erklärte der Großvater. Lilly blickte ihn verständnislos an.
„Aber wieso sollte jemand ein Messer mit ins Museum nehmen wollen?“
Das Museum zeigte Bilder und Geschichten von Juden, die im zweiten Weltkrieg in Konzentrationslager gesteckt worden waren. Lilly wurde von Raum zu Raum bedrückter und beeilte sich mit dem Lesen der Geschichten von den Schicksalen jener Menschen und war froh, als sie endlich aus den düsteren Räumen und wieder ans Licht trat.
Als sie wieder draußen waren, war es bereits Mittag. Lilly rannte zur Treppe zurück, die sie hinab gestiegen waren und holte Holly ab. Dann wartete sie auf Großvater, der ihr nicht so schnell hatte folgen können.
„Hast du Hunger?“
Lilly bejahte. Also gingen sie zu einem der Schnellimbisse hinüber, von deren Terrassen aus man auf das Stelenfeld und die darin herum irrenden Menschen sehen konnte. Sie verdrückten zusammen eine Pizza und Holly bekam von dem freundlichen Wirt eine Schale Wasser hingestellt. Mit jedem Bissen der Pizza fühlte sich Lilly besser und endlich löste sich ihre Bedrückung.
„Wohin gehen wir jetzt?“, wollte Lilly neugierig wissen, als Großvater gezahlt hatte und sie aufgestanden waren.
„Wir gehen zum Checkpoint Charly.“ Und sie machten sich auf den Weg.
Der Checkpoint war eine einfache Straßenkreuzung. Ein kleines Häuschen in der Mitte der Straße kennzeichnete die Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Staunend betrachtete Lilly das kleine Häuschen.
In einem der Häuser daneben, war ein Museum eingerichtet. Großvater und Lilly stellten sich hinten an und langsam ging es in das Innere des Museums.
Mit großen Augen und an der Hand des Großvaters bestaunte Lilly die vielen Dinge, die ausgestellt waren. Da gab es primitive Flugobjekte, alte Autos und viele Bilder. Vor einem Bild blieb Lilly stehen. Darauf war die Straßenkreuzung abgebildet, mit dem Häuschen davor; Soldaten und Panzer standen sich Gegenüber. Lilly konnte die Spannung, die auf dem Bild herrschte, beinahe spüren.
Weiter ging es, über zwei Etagen, ein Ausstellungsstück nach dem anderen. Großvater erklärte ihr, dass in der Zeit, als Berlin in zwei Teile getrennt gewesen war, viele Menschen versucht hatten, auf die westliche Seite zu fliehen. Und zwar genau mit diesen zusammen gebastelten Flugobjekten. Er zeigte ihr ein Auto, in dem ein Mann versucht hatte, seine Freundin zu schmuggeln, indem er sie auf den Beifahrersitz gesetzt und mit einer Decke zugedeckt hatte. Lilly staunte.
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