Summer blickte Helen in die Augen, fühlte mit ihr mit und bewegte sich nicht. Vor ihm stand der Teller, dessen Inhalt geformt war wie ein Drache, der Feuer spuckt. Der Leib bestand aus einem Steak, der Hals aus Garnelen, der Kopf und der Schwanz aus verschiedenen Früchten, die Beine aus Gemüse und rundherum war die Speise mit Reis verziert. Durchsetzt war das Ganze mit einer orange bis feurig roten Soße. Die Band spielte immer noch im Hintergrund. Summer fühlte sich, als ob er durch ein imaginäres Loch in eine surreale Welt gesogen worden wäre. Ihm war natürlich klar, wie die Geschichte weitergehen würde, er sah sein Essen vor sich und traute sich in Anbetracht Helens Erzählung nicht, es anzurühren.
„Später bestätigte sich meine Befürchtung, es war tatsächlich die Maschine, in der meine Eltern saßen.“
Chris schaute sie an und sagte:
„Das tut mir wirklich sehr leid für dich!“
Sie erwiderte nichts, doch sie konnte fühlen, dass er es ernst meinte. Sie fühlte sich geborgen. Nach einer kurzen Pause sagte sie:
„Essen wir, bevor es kalt wird.“
Der Journalist erlegte seinen Drachen, indem er ihm Messer und Gabel in den Leib rammte. Gespannt führte er ein Stück zum Mund und begann zu kauen. Der Geschmack war unbeschreiblich gut. Er zerlegte das Tier in alle Einzelteile und wunderte sich etwas über die vielen Früchte, die dabei waren. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Helen grinste. Noch während er sich fragte, was das nun wieder zu bedeuten hatte, wurde ihm heiß und das Wasser drückte sich durch alle seine Poren. Seine Augen tränten und seine Nase lief. Er öffnete den Mund so weit er konnte und rang nach Luft. Hastig ergriff er den Krug mit purem Wasser, der vor ihm stand, schenkte sich ein Glas nach dem anderen ein und leerte es jeweils in einem Zug. Dann wedelte er mit der Hand herum, so als ob er das Feuer löschen wollte, das sich in seinem Mund entfacht hatte. Helen konnte es sich nicht verkneifen, sie prustete vor Lachen. Als sich beide wieder gefangen hatten, schaute Helen ihn an und sagte:
„Die Zunge, die aus Leidenschaft brennt, um Funken der Wahrheit zu versprühen sucht der Törichte zu löschen, weil er es nicht ertragen kann, der Weise jedoch wird sich daran laben, wie der Singvogel an der Morgenstunde, die ihn zum Leben erweckt. Zitat Gerome T. Christian. Du musst die Früchte und das andere abwechselnd essen, dann ist es nicht so scharf.“
„Das hättest du mir auch früher sagen können.“
„Stimmt, aber dann hätte ich nichts zu lachen gehabt.“
„Wirklich sehr witzig, ha ha.“
Summer bemerkte, dass er Gefühle für sie hatte. Er mochte ihren Esprit versprühenden Charme. Gedanken machte er sich allerdings schon. Was war das für eine Frau und welche Geheimnisse barg sie in sich? Er kannte sie erst seit einem halben Tag und doch schien sie sein Leben bereits ziemlich intensiv zu beeinflussen. Warum redete sie so seltsames Zeug? Zuerst heute Morgen dieser Kampf mit Noname, dann der simulierte Sturm im Bad und jetzt dieses Zitat. Hatte das etwas zu bedeuten?
„Schmeckt es dir wenigstens?“
„Ja, das schmeckt unglaublich gut, aber es ist brutal scharf.“
„Weiß ich.“
„Willst du deine Geschichte weitererzählen? Es würde mich sehr interessieren.“
„Ja, klar.“
Helens Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. Sie kaute an einigen Happen, die sie in den Mund geführt hatte, überdurchschnittlich lange, als ob sie versuchte, Zeit zu gewinnen.
„Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen und nichts gehört. Ich trank reichlich Alkoholisches, was aber den Gedankencocktail noch mehr zum Kochen brachte und letztendlich verlor ich die Kontrolle über mich. Ich soff, meine Freunde mit mir mit und die Party eskalierte. Ich schaute wieder ins Wohnzimmer, in dem man die Luft hätte schneiden können. Von den ungeladenen Gästen hatte jeder eine Tüte in der Hand und qualmte die Bude voll. Ich setzte mich zu ihnen und machte kräftig mit. Das ganze Haus begann, sich um mich zu drehen, immer schneller und schneller. Wie von einem wilden Tier gebissen sprang ich wieder auf und versuchte das Haus anzuhalten, aber es drehte sich weiter und weiter. Ich ergriff die Flucht Richtung Garten. Zum Glück waren noch ein paar gute Freunde da, die mich beruhigten. Ihnen war plötzlich klar, dass irgendetwas nicht stimmte, denn dass ich so außer Kontrolle geriet, hatten sie bei mir noch nie erlebt. Sie steckten mich in einen Schlafsack und blieben die ganze Nacht an meiner Seite, bis ich am nächsten Tag irgendwann aufwachte. In Haus und Garten sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall lagen Leute herum und schliefen, der Rasen im Garten war gesäumt von leeren Flaschen. Irgendjemand musste mitten in das Equipment der Band gestürzt sein, Schlagzeug und Mikrofone lagen am Boden herum. Als ich einigermaßen bei mir war, fiel mir die Nachrichtensendung wieder ein. Der Gedanke, dass meine Eltern tot waren, traf mich mit der Wucht einer Bombe. Alle meine Hirngespinste in Bezug auf eine Überlebenstheorie verflüchtigten sich auf einen Schlag. Die pure, nackte Angst packte mich. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sprang ich durch die Gegend und schluchzte, denn jetzt wusste ich, dass sie tot waren. Was sollte jetzt nur aus mir werden?
Freunde, die noch da waren, nahmen mich in den Arm, streichelten mich und fragten, was los sei. Ich erzählte es ihnen. Sie versuchten nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen, denn auch sie spürten, dass es die Wahrheit war.“
Helen machte eine Pause, sie war bedrückt.
„Na ja, die Geschichte nahm ihren Lauf. Es war tatsächlich die Maschine meiner Eltern. Sie waren tot. Das war der erste Schicksalsschlag. Der zweite war, dass ich dann innerhalb kürzester Zeit mit rein gar nichts mehr da stand. Das Haus gehörte der Bank. Sie waren knallhart. Nachdem ich ja noch nichts verdiente, konnte ich auch keine Raten zahlen. Sie forderten das Haus zurück und schmissen mich raus. Meine Eltern hatten es versäumt, Vorsorge zu betreiben. Mein Vater verdiente ganz gut und wahrscheinlich haben sie geglaubt, dass es einfach immer so weiter geht. Ich meine, kannst du dir vorstellen, wie das ist? Auf einen Schlag verlierst du deine Eltern und dann dein Zuhause. Es war schrecklich, ich wollte nicht mehr leben. Ich wohnte dann mal hier und mal dort und schlug mich irgendwie durch.“
Summer fühlte mit ihr mit und war sichtlich berührt. Er schaute ihr tief in die Augen, alles um sie herum verlor plötzlich an Bedeutung. Als ob sie in einer Höhle säßen, so kam es ihm vor. Die Musik und das bunte Treiben im Lokal drangen nur noch gedämpft zu ihnen durch.
„Auf einmal hörte ich dann von Art-City. Von Beginn an war ich fasziniert, das ganze System schien mir nahezu perfekt zu sein. Als mir klar wurde, dass es wieder eine Chance für mich gab, entwickelte ich auch wieder Lebenswillen. Mein Wunsch war, kreativ tätig zu sein und so machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Damals war es noch einfacher in Art-City unterzukommen als heute. Wer es bis hinter die Pforten der aufstrebenden Siedlung schaffte, war so gut wie dabei. Ich präsentierte meine Vorstellung dessen, was ich tun wollte. Dafür brauchte ich nur ein Atelier, die nötigen finanziellen Mittel dazu und eine Wohnung. Die Sache mit dem Health-Leader kam übrigens erst sehr viel später. Da ich alle Voraussetzungen erfüllte, wurde ich aufgenommen in der großen Gemeinde Art-Citys. Für mich war das damals die Rettung meines Lebens. Die ganzen Formalitäten gingen ziemlich schnell über die Bühne und innerhalb kürzester Zeit hatte ich alles, was ich brauchte. Jeder, der hier lebt, hat die unglaubliche Chance, aus allem, was einem durch den Kopf geht, etwas zu machen. Der Schlüssel zur Stadt ist die feste Entschlossenheit und der Wille etwas zu tun. Von daher ist ein Florieren der Stadt vorprogrammiert.“ In etwa wusste Summer, wie die Stadt funktionierte, jedoch nicht im Detail. Bei ihm genügte die Stelle beim Dailys, um aufgenommen zu werden. Die Atmosphäre an ihrem Tisch war jetzt wieder etwas gelöster.
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