Buntes Treiben herrschte im Zentrum der Metropole. Es war ein riesiger Platz, auf dem alles zusammenlief. Trotz klirrender Kälte, es war Winter, waren überall Menschen, die verschiedene Darbietungen zeigten. Summer nutzte die verbleibende Zeit, um sich unter einen Pulk von Zuschauern zu mischen. Eine Akrobatengruppe zeigte ihr Können, sie waren gerade dabei, eine menschliche Pyramide zu bauen. Fünf kräftige Männer stellten sich breitbeinig in einer Linie auf. Es folgten vier weitere, die sich auf den Schultern der Unteren positionierten. Sechs athletische Frauen kletterten jetzt über die unteren zwei Linien hinauf und bildeten noch einmal drei Reihen mit jeweils drei, beziehungsweise zwei und zum Schluss einer Person, die die Spitze des Gebildes darstellte. Als Summer das Szenario beobachtete, begann er zu rechnen. Er malte sich aus, dass jede Person im Durchschnitt etwa fünfundsiebzig Kilo wiegen dürfte. Das wären dann für jeden Mann in der untersten Reihe einhundertfünfzig Kilo. Als er mit seinen Berechnungen fertig war, legte sich ganz zart eine wohlriechende Hand auf seine Augen und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr:
„Je weiter du hinaufkommst, desto akrobatischer musst du sein. Je weiter unten du im Fundament stehst, desto kräftiger. Lass uns essen gehen.“
Er drehte sich um und blickte in Helens verführerische Augen. So faszinierend diese Frau war, sie konnte in gewisser Weise auch leicht verstörend wirken. War diese Bemerkung so etwas wie eine verschlüsselte Botschaft oder war es einfach nur belangloses Gerede? Ihre Kleidung war schlicht und doch sah sie umwerfend aus. Sie hatte eine enge Jeans, schwarze Stiefel und eine legere Jacke an. Ihre schwarze Haarpracht trug sie offen und leicht gewellt. Sie duftete unwiderstehlich, bemerkte Summer, als er ihr näherkam.
„Kennst du das `Red Dot´?“, fragte sie.
„Nein, aber du wirst es mir bestimmt gleich zeigen.“
„Okay, du Riese. Mir nach.“
Helen war zwar mit ihren 1,75m auch nicht gerade klein, aber Summer überragte sie doch noch um einiges. Sie nahmen die Vacationline und stiegen bei Exit-number 17 aus.
„Wie lange lebst du eigentlich schon hier?“
Helen beobachtete ihn unentwegt, während er die Speisekarte studierte.
„Seit etwa einem Jahr, und du?“
„Oh, ich bin schon seit ungefähr zwanzig Jahren hier.“
„Das heißt, du bist gemeinsam mit dieser Stadt groß geworden?“
Helen und Summer hatten sich auf der 3. Ebene niedergelassen, von wo aus die beiden einen einwandfreien Blick auf die Bühne hatten. Im Red Dot konnte man fast jeden Abend eine Live-Band sehen. An diesem Tag spielten die „Intermediate Heroes“. Ihre Musik war gleichermaßen faszinierend wie gewöhnungsbedürftig. Ein groovender Mix aus digitalem Computersound, klassischen Einflüssen und rockigen Elementen. Bei längerem Hinhören geriet man regelrecht in einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen konnte.
„Kannst du mir etwas empfehlen?“
„Kommt drauf an, auf was du stehst. Magst du´s lieber gewöhnlich oder eher exotisch?“
Helen legte dabei ihren Kopf leicht schräg, blickte ihm direkt in die Augen und lächelte verwegen. Summer erwiderte ihren Blick und sagte:
„Ich liebe es, das Unbekannte zu erforschen, deswegen wähle ich exotisch!“
„Gut, dann empfehle ich dir Red Surprise.“
„Hört sich vielversprechend an, und was nimmst du?“
„Ich nehme Seafruits.“
„Oh, eine Meeresfruchtliebhaberin.“
Eine attraktive blonde Frau mittleren Alters näherte sich ihrem Tisch, um die Bestellung aufzunehmen.
„Guten Abend haben Sie schon ausgesucht?“
„Ja, die Dame bekommt einmal Seafruits, ich nehme Red Surprise, dazu eine Flasche trockenen Roten und einen Krug mit Wasser bitte.“
„Sind Sie sicher, dass Sie Red Surprise nehmen?“
Summer legte seinen Kopf zur Seite und schaute die Frau einen kurzen Moment fragend an, sagte dann aber mit Bestimmtheit einfach ja. Die Bedienung nickte und lächelte freundlich. Summer wandte sich wieder Helen zu.
„Erzähl mal, wie kamst du nach Art-City?“
Helens Miene verdunkelte sich etwas und sie zögerte.
„Es geschah im Jahr 2030. Ich war damals 16 Jahre alt, meine Eltern sind in den Urlaub geflogen und ich blieb zum ersten Mal zu Hause. Zwei Wochen wollten sie wegbleiben, doch sie kamen nie wieder.“
Helen stockte und senkte leicht ihren Kopf, sie schaute ihrem Gegenüber jetzt nicht mehr in die Augen. Summer berührte sie mit dem Zeigefinger an ihrem Kinn und hob ihren Kopf behutsam an, bis sich ihre Blicke wieder trafen.
„Du kannst mir vertrauen. Was ist passiert?“, sagte er ruhig, aber bestimmt.
„Sie flogen an einem Samstag. Das Ziel war Hawaii, dort wollten sie schon immer mal hin. Sie freuten sich wie kleine Kinder auf diese Reise. Ich verstand mich sehr gut mit meinen Eltern, an ihrem Abreisetag hatte ich Geburtstag und wollte eine große Party feiern, und das tat ich dann auch. Ich wünschte mir eine Feier ohne Eltern, nur mit meinen Freunden. So als eine Art Abnabelung, verstehst du? Kaum waren sie aus dem Haus, kamen auch schon die ersten Gäste. Die Party sollte ein richtiger Kracher werden, meine Eltern drückten mir einen Batzen Geld in die Hand und sagten: „Gestalte deine Party so, wie es dir gefällt.“
Das Geld, das sie mir gaben, reichte sogar für eine Band. Sie spielte draußen im Garten. Ich hatte für alles gesorgt, was man für eine tolle Party brauchte. Es lief alles nach Plan, so wie ich es mir gewünscht hatte, bis auf einmal so gegen elf Uhr abends ein paar Idioten auftauchten und meinten, die Party stören zu müssen. Ich hatte sie nicht eingeladen, aber wir waren alle schon recht angeheitert und amüsierten uns gut. Keiner von uns hatte Bock auf Stress, also ließen wir sie machen. Sie nahmen sich alkoholische Getränke, soviel sie tragen konnten, belagerten das Wohnzimmer und warfen die Glotze an. Sie zappten die ganze Zeit hin und her und machten sich über alles lustig.“
Mit einem lockeren Hüftschwung und einem Tablett in den Händen näherte sich die Bedienung ihrem Tisch. Zuerst servierte sie Helens Gericht mit den Meeresfrüchten. Dann bediente sie Summer und zog ein Streichholz hervor. Helen und die Bedienung hatten ein listiges Grinsen auf den Lippen.
„Überraschung“, sagte die hübsche Blonde mit einem schwingenden Unterton. Als sie ein Streichholz anzündete und an Summers Teller hielt, zischte es kurz. Eine heftige Stichflamme loderte hoch und orangerot auf, woraufhin der Journalist etwas blass um die Nase wurde. Die Bedienung wünschte einen guten Appetit und entfernte sich. Der Name des Gerichts hatte gehalten, was er versprochen hatte, Summer war überrascht und schaute Helen in die Augen. Sie konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
„Freut mich für dich, dass du deinen Spaß hast“, sagte er und meinte es ernst.
Ihr Blick wurde aber kurz darauf wieder traurig und nachdenklich.
Summer bemerkte es und fragte: „Okay, und was geschah dann?“
„Als ich das Wohnzimmer betrat, lief gerade ein Nachrichtensender. Dort berichteten sie von einem Flugzeugabsturz nahe Hawaii, eine Maschine war in einen Sturm geraten und ins Meer gestürzt. Niemand der Insassen hatte das Unglück überlebt. Panische Angst überkam mich, ich befürchtete sofort, dass es das Flugzeug war, mit dem meine Eltern unterwegs waren. Aber ich hämmerte mir wie eine Irre ein, dass so viele Maschinen durch die Gegend flogen und es sei bestimmt eine andere gewesen. Ich begann mit mir selbst zu diskutieren, versuchte mich selbst zu beruhigen. Ich beschwichtigte meine Vermutung immer wieder mit dem Argument, dass doch Hunderte von Flugzeugen unterwegs waren und sicher auch in der Nähe von Hawaii umher flogen. Die Gedanken machten mit mir plötzlich, was sie wollten, wie in einer Achterbahn schleuderten sie meinen Verstand hin und her, rauf und runter.“
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