In der Residenz geboren und aufgewachsen, war mein Freund in geistiger Bildung mir in jeder Hinsicht voran, auch hatte er eine recht hübsche Kenntnis der schönen Literatur, die mir durchaus fehlte. In dieser Zeit war Theodor Körner der gefeierte Held des Tages; er brachte mir dessen Gedichte ›Leier und Schwert‹, die denn nicht verfehlten, auch auf mich einen großen Eindruck zu machen und auch mich zur Bewunderung hinzureißen.
Man hat viel von der künstlerischen Wirkung eines Gedichtes gesprochen und sie sehr hoch gestellt; mir aber will erscheinen, daß die stoffartige die eigentlich mächtige sei, worauf alles ankomme. Ohne es zu wissen, machte ich diese Erfahrung an dem Büchlein ›Leier und Schwert‹. Denn, daß ich gleich Körner den Haß gegen unsere vieljährigen Bedrücker im Busen getragen, daß ich gleich ihm den Befreiungskrieg mitgemacht und gleich ihm alle Zustände von beschwerlichen Märschen, nächtlichen Biwaks, Vorpostendienst und Gefechten erlebt und dabei ähnliche Gedanken und Empfindungen gehegt hatte, das verschaffte diesen Gedichten in meinem Innern einen so tiefen und mächtigen Anklang.
Wie nun aber auf mich nicht leicht etwas Bedeutendes wirken konnte, ohne mich tief anzuregen und produktiv zu machen, so ging es mir auch mit diesen Gedichten von Theodor Körner. Ich erinnerte mich aus meiner Kindheit und den folgenden Jahren, daß ich selber hin und wieder kleine Gedichte geschrieben, aber nicht weiter beachtet hatte, weil ich auf dergleichen leicht entstehende Dinge damals keinen großen Wert legte, und weil überall zur Schätzung des poetischen Talents immer einige geistige Reife erforderlich ist. Nun aber erschien mir diese Gabe in Theodor Körner als etwas durchaus Rühmliches und Beneidenswürdiges, und es erwachte in mir ein mächtiger Trieb, zu versuchen, ob es mir nicht gelingen wolle, es ihm einigermaßen nachzutun.
Die Rückkehr unserer vaterländischen Krieger aus Frankreich gab mir eine erwünschte Gelegenheit. Und wie mir in frischer Erinnerung lebte, welchen unsäglichen Mühseligkeiten der Soldat im Felde sich zu unterziehen hat, während dem gemächlichen Bürger zu Hause oft keine Art von Bequemlichkeit mangelt, so dachte ich, daß es gut sein möchte, dergleichen Verhältnisse in einem Gedicht zur Sprache zu bringen und dadurch, auf die Gemüter wirkend, den zurückkehrenden Truppen einen desto herzlicheren Empfang vorzubereiten.
Ich ließ von dem Gedicht einige hundert Exemplare auf eigene Kosten drucken und in der Stadt verteilen. Die Wirkung, die es tat, war günstig über meine Erwartung. Es verschaffte mir den Zudrang einer Menge sehr erfreulicher Bekanntschaften, man teilte meine ausgesprochenen Empfindungen und Ansichten, man ermunterte mich zu ähnlichen Versuchen und war überhaupt der Meinung, daß ich die Probe eines Talentes an den Tag gelegt habe, welches der Mühe wert sei weiter zu kultivieren. Man teilte das Gedicht in Zeitschriften mit, es ward an verschiedenen Orten nachgedruckt und einzeln verkauft, und überdies erlebte ich daran die Freude, es von einem sehr beliebten Komponisten in Musik gesetzt zu sehen, so wenig es sich auch im Grunde, wegen seiner Länge und ganz rhetorischen Art, zum Gesang eignete.
Es verging von nun an keine Woche, wo ich nicht durch die Entstehung irgendeines weiteren Gedichts wäre beglückt worden. Ich war jetzt in meinem vierundzwanzigsten Jahre, es lebte in mir eine Welt von Gefühlen, Drang und gutem Willen; allein ich war ganz ohne alle geistige Kultur und Kenntnisse. Man empfahl mir das Studium unserer großen Dichter und führte mich besonders auf Schiller und Klopstock. Ich verschaffte mir ihre Werke, ich las, ich bewunderte sie, allein ich fand mich durch sie wenig gefördert; die Bahn dieser Talente lag, ohne daß ich es damals gewußt hätte, von der Richtung meiner eigenen Natur zu weit abwärts.
In dieser Zeit hörte ich zuerst den Namen Goethe und erlangte zuerst einen Band seiner Gedichte. Ich las seine Lieder, und las sie immer von neuem, und genoß dabei ein Glück, das keine Worte schildern. Es war mir, als fange ich erst an aufzuwachen und zum eigentlichen Bewußtsein zu gelangen; es kam mir vor, als werde mir in diesen Liedern mein eigenes mir bisher unbekanntes Innere zurückgespiegelt. Auch stieß ich nirgends auf etwas Fremdartiges und Gelehrtes, wozu mein bloß menschliches Denken und Empfinden nicht ausgereicht hätte, nirgends auf Namen ausländischer und veralteter Gottheiten, wobei ich mir nichts zu denken wußte; vielmehr fand ich das menschliche Herz in allen seinem Verlangen, Glück und Leiden, ich fand eine deutsche Natur wie der gegenwärtige helle Tag, eine reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklärung.
Ich lebte in diesen Liedern ganze Wochen und Monate. Dann gelang es mir, den ›Wilhelm Meister‹ zu bekommen, dann sein Leben, dann seine dramatischen Werke. Den ›Faust‹, vor dessen Abgründen menschlicher Natur und Verderbnis ich anfänglich zurückschauderte, dessen bedeutend rätselhaftes Wesen mich aber immer wieder anzog, las ich alle Festtage. Bewunderung und Liebe nahm täglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in diesen Werken und dachte und sprach nichts als von Goethe.
Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke eines großen Schriftstellers ziehen, kann mannigfaltiger Art sein; ein Hauptgewinn aber möchte darin bestehen, daß wir uns nicht allein unseres eigenen Innern, sondern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher bewußt werden. Eine solche Wirkung hatten auf mich die Werke Goethes. Auch ward ich durch sie zur besseren Beobachtung und Auffassung der sinnlichen Gegenstände und Charaktere getrieben; ich kam nach und nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichsten Harmonie eines Individuums mit sich selber, und somit ward mir denn das Rätsel der großen Mannigfaltigkeit sowohl natürlicher als künstlerischer Erscheinungen immer mehr aufgeschlossen.
Nachdem ich mich einigermaßen in Goethes Schriften befestiget und mich nebenbei in der Poesie praktisch auf manche Weise versucht hatte, wendete ich mich zu einigen der größten Dichter des Auslandes und früherer Zeiten, und las in den besten Übersetzungen nicht allein die vorzüglichsten Stücke von Shakespeare, sondern auch den Sophokles und Homer.
Hiebei merkte ich jedoch sehr bald, daß von diesen hohen Werken nur das Allgemein-Menschliche in mich eingehen wolle, daß aber das Verständnis des Besonderen, sowohl in sprachlicher als historischer Hinsicht, wissenschaftliche Kenntnisse und überhaupt eine Bildung voraussetzte, wie sie gewöhnlich nur auf Schulen und Universitäten erlangt wird.
Überdies machte man mir von manchen Seiten bemerklich, daß ich mich auf eigenem Wege vergebens abmühe und daß, ohne eine sogenannte klassische Bildung, nie ein Dichter dahin gelangen werde, sowohl seine eigene Sprache mit Geschick und Nachdruck zu gebrauchen, als auch überhaupt, dem Gehalt und Geiste nach, etwas Vorzügliches zu leisten.
Da ich nun auch zu dieser Zeit viele Biographien bedeutender Männer las, um zu sehen, welche Bildungswege sie eingeschlagen, um zu etwas Tüchtigem zu gelangen, und ich bei ihnen überall den Gang durch Schulen und Universitäten wahrzunehmen hatte, so faßte ich, obgleich bei so vorgerücktem Alter und unter so widerstrebenden Umständen, den Entschluß, ein gleiches auszuführen.
Ich wendete mich alsobald an einen als Lehrer beim Gymnasium zu Hannover angestellten vorzüglichen Philologen und nahm bei ihm Privatunterricht, nicht allein in der lateinischen, sondern auch in der griechischen Sprache, und verwendete auf diese Studien alle Muße, die meine wenigstens sechs Stunden täglich in Anspruch nehmenden Berufsgeschäfte mir gewähren wollten.
Dieses trieb ich ein Jahr. Ich machte gute Fortschritte; allein bei meinem unaussprechlichen Drange vorwärts kam es mir vor, als gehe es zu langsam und als müsse ich auf andere Mittel denken. Es wollte mir erscheinen, daß, wenn ich erlangen könne, täglich vier bis fünf Stunden das Gymnasium zu besuchen und auf solche Weise ganz und gar in dem gelehrten Elemente zu leben, ich ganz andere Fortschritte machen und ungleich schneller zum Ziele gelangen würde.
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