„Ich habe Angst, dass er mich zerstört.“
„Weil er über deine Kleidung spottet und dich Mädchen nennt? Du hast mir noch nicht alles erzählt. Was ist passiert?“
Sie schluckte und nahm einen neuen Anlauf.
„Er hat gesagt, man können mir ansehen, dass ich keine Kinder habe. Ich sähe aus, als sei ich zurückgeblieben. Es war, als wüsste er das mit dem Kind.“
„Lass mich raten: Ihm geht es nicht gut. Er ist jähzornig und hat sich schlecht unter Kontrolle. Fühlt sich schnell in die Enge getrieben.“
Die Ruhe und Bestimmtheit, mit der Christiane sprach, tat gut.
„Woher weißt du das?“
„Solche Typen kenne ich aus der Beratungsstelle. Komplett verunsichert. Leben nach dem Motto Angriff ist die beste Verteidigung und schlagen so lange um sich, bis sie einen wunden Punkt treffen. Mit Menschenkenntnis hat das nichts zu tun. Es ist der reine Bluff.“
„Dafür, dass es nur Bluff war, habe ich mich danach ganz schön mies gefühlt.“
„Klar. Die Wunde ist ja echt. Deshalb funktioniert es. Nur gibt es keinen Grund, diesem Otto Guse deshalb einen besonderen psychologischen Riecher anzudichten. Damit gibst du ihm zu viel Macht.“
„Was soll ich deiner Meinung nach tun?“
„Beobachte das nächste Mal, was vorausgegangen ist, wenn er dich angreift. Du hast ihn nicht zufällig vorher gefragt, ob er Kinder hat?“
„Genau.“
Erst jetzt fiel ihr das wieder ein.
„Dann war ihm die Frage vermutlich sehr unangenehm. Das solltest du natürlich nicht merken.“
Christiane hatte Recht. Der Alte hatte nur kurz den Kopf geschüttelt und dann seine Worte wie Pfeile abgeschossen. Sie spürte, dass ihr Atem vor Erleichterung wieder freier ging.
„Danke. Du hast mir sehr geholfen.“
„Keine Ursache.“
Christiane machte eine kleine Pause und setzte dann leiser, in einem behutsameren Ton hinzu:
„Weiß Rüdiger immer noch nichts von dem Kind?“
Mit einem Mal legte sich ein Druck auf ihre Brust und ihren Kehlkopf. Sie hatte Mühe zu sprechen.
„Der Stand ist unverändert. Wir haben nie darüber geredet.“
Worte waren nie das stärkste Bindeglied zwischen Rüdiger und ihr gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie miteinander aufgewachsen waren.
„Ich habe schon in deinen großen Zeh gebissen, als du noch ein Baby warst“, sagte Rüdiger, wenn er sie necken wollte. In den letzten Jahren kam das kaum noch vor. Der Ton zwischen ihnen war rauher geworden, unterbrochen von Phasen eisigen Schweigens. Wenn sie hingegen an ihre Kindheit dachte, hatte die Abwesenheit von Erklärungen nichts Bedrohliches. Rüdigers Gegenwart war ein Strom von Bildern und Lauten, die sie umgaben wie ein Bad, das der eigenen Körpertemperatur genau angepasst ist. Der Wellenkamm seines vornübergebeugten Rückens im Sonnenlicht, die winzigen dunklen Locken, sein klarer, unbefangener Sopran. Er war der einzige Junge, der ihrem Blick nicht auswich, während er sang. Ihre Wünsche merkte er sich, selbst wenn sie nur ein einziges Mal leise davon sprach. Ein Mensch mit einem feinen Gehör.
„Komm, ich zeige dir mein Geschenk. Das musste ich nämlich verstecken, weil es zu groß für den Tisch ist.“
Es war ihr sechster Geburtstag gewesen. Rüdigers Stimme klang dunkel vor Stolz. Unter den Blicken ihrer Mutter und Tante Hannelores folgte sie ihm zum Fenster. Er schlug den Vorhang zurück, und ihr stockte der Atem. An der Wand lehnte ein hölzerner Roller. Der Lenker sah ein wenig grob aus, wie ein zusammengenageltes Kreuz, aber es war alles vorhanden, was zu einem richtigen Roller gehört: ein Trittbrett, auf dem man bequem mit beiden Füßen stehen konnte, darunter kleine Räder mit richtigen Gummireifen und Schutzblechen und sogar ein rotes Rücklicht. Der Anblick überstieg alles, was sie sich für ihren Geburtstag erhofft hatte, sodass ihr Mund trocken wurde vor Verlegenheit und Glück. Sie träumte schon lange von einem Roller. Von dem angenehm kitzligen Gefühl, das sich in ihrem Bauch ausbreiten würde, wenn sie schnell über die Bürgersteige führe. Von der Schnelligkeit, mit der sie Wege zurücklegen könnte, die ihr bisher immer endlos vorgekommen waren. Die Einkäufe, die sie erledigen musste, wenn ihre Mutter krank war, dauerten viel zu lang. Mit einem Roller hingegen würden sie zu einem vergnüglichen Spiel werden, trotz des Schlangestehens. Man würde sie natürlich beneiden. Sie würde gut auf den Roller aufpassen müssen. Bei dieser Vorstellung wurde ihr heiß vor Stolz. Die Glücksstarre, die sie befallen hatte, löste sich. Sie lief auf den Roller zu, umfasste mit beiden Händen fest den Lenker, um sich zu versichern, dass er wirklich existierte, und rief:
„Tante Hannelore, darf ich einmal hier drinnen damit fahren?“
„Aber vorsichtig.“
Tante Hannelore lachte vor Freude darüber, dass das Geschenk ihres Sohnes so gut ankam.
„Bist du schon mal gerollert?“, fragte Rüdiger.
Sie schüttelte den Kopf.
„Dann helfe ich dir.“
Er trat neben sie und legte seine Hände links und rechts neben ihre auf den Lenker. Sie spürte die Wärme seiner Armbeuge in ihrem Rücken.
„Stell dich auf das Brett. Ich halte den Roller fest.“
Sie gehorchte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, so dazustehen, ohne festen Boden unter den Füßen, doch Rüdiger sorgte dafür, dass der Roller sich nicht bewegte, bis sie einen sicheren Stand gefunden hatte.
„Gut so?“
Sie nickte wieder.
„Dann fahre ich dich jetzt ein bisschen.“
Langsam schob er den Roller vorwärts, und sie spürte die Weichheit des Teppichs unter den Rädern. Zuerst verkrampften sich ihre Arme und ihr Rücken, aber dann begann in ihrem Bauch das angenehm kitzlige Gefühl, von dem sie immer gewusst hatte, dass sie es spüren würde. Ein hoher Laut, der sie selbst erstaunte, kam aus ihrem Mund. Rüdiger, beide Hände fest am Lenker, rollte sie langsam um den großen, runden Esstisch. Sie sah die beigefarbene Ornamenttapete vorübergleiten, die hohe Tür, das wuchtige Geschirrbuffet, das Sofa und die Stehlampe. Das Gleiten erzeugte ein Gefühl von Leichtigkeit in ihr, als schwebe das Zimmer und inmitten des Zimmers sie selbst. Nach einigen Runden hielt Rüdiger an. Tante Hannelore legte die Hand auf seine Schulter.
„Mein lieber, bescheidener Sohn! Du hast noch gar nicht erzählt, dass du den Roller selbst gebaut hast.“
Ihre Mutter kam heran.
„Komm, steig mal ab. Das ist ja ein dolles Ding. Wo hast du denn die ganzen Teile her?“
Rüdiger zuckte die Schultern, um anzudeuten, dass der Bau des Rollers nicht der Rede wert sei, aber über sein Gesicht glitt ein kleines Lächeln.
„Alles organisiert. Ich habe schon vor einem Jahr angefangen.“
Tante Hannelore nahm ihn so fest in den Arm, dass sich seine mageren Schultern noch ein wenig mehr zusammenschoben, und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Mein Großer, Kluger.“
Und, zu ihrer Mutter gewandt, fügte sie hinzu:
„Ich musste mich wirklich um nichts kümmern. Er hat alles alleine in der Laube gesammelt und zusammengebaut.“
„Schön“, antwortete ihre Mutter.
Aber es war einer jener Momente, in denen ihre Stimme wegbrach, sodass es klang wie ein trauriger Seufzer. Dann gab sie ihr einen Stoß mit dem Ellbogen in die Seite.
„Du hast dich noch nicht bedankt.“
Sie wollte gerade gehorsam den Mund öffnen, als sie Rüdigers Stimme hörte.
„Doch, das hat sie. Man muss dazu das Wort nicht sagen.“
Am nächsten Morgen kann er nicht aufstehen. In seinem Kopf stürmt es. Zuerst glaubt er, dass er träumt, aber je wacher er wird, desto mehr Kraft gewinnt der Sturm. Als er die Augen öffnet, hat er auch die Wand seines Schlafzimmers erfasst und weht das Fenster immer wieder von links in sein Blickfeld. Es macht ihn verrückt. Er kneift die Lider fest zusammen. Vor seinen Augen zittert eine rot-glühende Dunkelheit. Er tastet nach Gretes Kittelschürze und presst sie gegen sein Gesicht. Aber ihm schlägt nur sein eigener verbrauchter Atem entgegen, der nach abgestandenen Ausdünstungen von Tabak riecht. Soldatengeruch.
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