Silke Grigo - Findeltochter - Vaterkind

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September 1990: Edith, eine Frau Mitte Vierzig, macht sich von Berlin aus auf den Weg zu einem ihr unbekannten Mann, von dem sie vermutet, dass er ihr Vater ist. Vor allem während ihrer Kindheit hat der abwesende Vater in ihrer Fantasie eine wichtige Rolle gespielt. In der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter war er ihre Zuflucht. Sie erträumte sich von ihm die Geborgenheit, die sie bei ihrer Mutter vermisste. Nachdem Ediths Mutter 1988 Suizid begangen hat, findet sie in ihrem Sekretär einen alten Zeitungsartikel über einen gewissen Otto Guse, der im Rheinland auf den Höhenzügen des Westerwaldes lebt. Sie vermutet, dass es sich um ihren Vater handelt. Jetzt, nach der Wende, reist sie zu ihm. Sie trifft einen vereinsamten, alkoholkranken und feindseligen Mann auf einem heruntergekommenen Bauernhof, der mit dem Vater in ihren Träumen nicht das Geringste gemeinsam hat. Trotz ihrer Enttäuschung entschließt sie sich zu bleiben, um die Wahrheit herauszufinden: Ist er ihr Vater? Warum hat ihre Mutter sich stets geweigert, von ihm zu sprechen? Trägt er Verantwortung dafür, dass Ediths Mutter ihre vierzehnjährige Tochter vor dreißig Jahren im Stich gelassen hat und mit ihrem damaligen Mann, der Edith nie akzeptierte, in den Westen geflohen ist? Mit Edith und dem «Alten», wie sie ihn für sich nennt, prallen Gegensätze aufeinander. Auf der einen Seite die kurz nach dem Krieg (1946) geborene Ostberlinerin aus städtischem Milieu, die sich nach der Wende neu orientieren muss. Auf der anderen Seite der «Alte», der vor dem Ersten Weltkrieg (1914) in dem Dorf geboren wurde, in dem er noch immer lebt, und dessen entscheidende Lebensdramen sich – abgesehen von der Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg – dort abgespielt haben. Für Edith wie für den «Alten» wird die Begegnung zu einer Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit. Mit verdrängten Verletzungen und verdrängter Schuld und mit der Frage, wie weit scheinbar freie Lebensentscheidungen auf Selbstbetrug und Zwängen beruht haben. Für Edith endet die Begegnung mit einer schwer erträglichen Wahrheit. Wird sie trotzdem befreit daraus hervorgehen?

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Silke Grigo

Findeltochter - Vaterkind

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Inhaltsverzeichnis Titel Silke Grigo Findeltochter Vaterkind Dieses ebook - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Impressum neobooks

Kapitel 1

Edith fand die Puppe am Rand eines Trümmergrundstücks unter einem Strauch, dessen weiße Blüten winzigen Schuhen glichen. Sie war stehen geblieben, um die seltsamen Gebilde zu bewundern. Ihre Mutter hatte zuerst versucht, sie weiterzuziehen, dann jedoch innegehalten. Vielleicht faszinierte die Schönheit der Blüten auch sie. So ließ sie ihr Zeit, mit ihrer Nasenspitze die Ränder der kleinen Höhlen zu berühren und ihren Duft einzuatmen. Sie streichelte die Blüten und wunderte sich darüber, dass sie ihre Zartheit mit ihren Fingerkuppen kaum ertasten konnte. Eine Blüte löste sich vom Zweig, und sie folgte ihr mit den Augen, bis sie sanft auf der Erde landete, als sei sie der Schuh einer Fee, die behutsam ihren Fuß dort aufsetzte. Dann erblickte sie den kleinen Mund, der sie durch die Zweige anlächelte. Sie ging in die Hocke.

„Pfui, Edith, lass das liegen.“

Die Stimme ihrer Mutter strich kühl über ihren Nacken, als fiele ein Schatten darauf. Sie hob die Puppe trotzdem auf und blies behutsam die kleinen Erdklumpen fort, die sich in der Kleidung verfangen hatten.

„Guck mal, ein kleiner Mann.“

Er war seltsam gekleidet, in eine beigefarbene, eng anliegende Hose und eine Bluse mit winzigen Stickereien. Auf seinen strohigen Haaren saß eine schwarze Kappe mit steil nach oben geklapptem Filzrand. An den Füßen trug er winzige braune Schuhe mit gekreuzten Lederbändern über dem Spann. Das Gesicht bestand ebenfalls aus zarten Stickereien: einem lächelnden roten Mund, schwarzen, punktförmigen Augen und einer kleinen, spitzen Nase. Sie drehte das Figürchen zwischen ihren Fingern hin und her. Sein Filzkörper schmiegte sich weich unter ihre Fingerkuppen. Mit den ausgestreckten Armen und Zehenspitzen fühlte er sich lebendig an, als sei er mitten in einer Bewegung, die seine Muskeln und Sehnen anspannte. Im Kindergarten spielten sie manchmal mit Puppen, die wie Handwerker oder Bauarbeiter angezogen waren. Aber dieser kleine Mann trug keine Arbeitskleidung und keinen Helm.

„Was hat er an?“

„Eine Tracht.“

„Wozu braucht man eine Tracht?“

„Leute auf dem Dorf tragen sie beim Fest.“

Die Stimme ihrer Mutter klang jetzt ungehalten.

„Komm, wir müssen weiter. Tante Hannelore wartet schon.“

Sie umklammerte die Puppe fest, während ihre Mutter sie mit sich fortzog.

Als sie den Frisiersalon betraten, hob Tante Hannelore gerade schwungvoll die Trockenhaube vom Kopf einer Kundin und rief ihnen über die Schulter zu: „Setzt euch schon mal, ihr Lieben. Ich muss gerade noch Frau Rosinski fertig machen.“ Edith fand Trockenhauben unheimlich. Bestimmt konnte man darunter ersticken. Sie würde sich niemals so ein Ding über den Kopf stülpen lassen, auch wenn Tante Hannelore immer behauptete, Frauen würden dadurch schön. Jetzt nahm sie der Frau Rosinski das Netz vom Kopf und begann, mit flinken Bewegungen die Lockenwickler aus ihren Haaren zu lösen. Immer wieder wunderte Edith sich über ihre schlanken und behenden Finger. Dabei war Tante Hannelore dick, und wenn sie sich über einen Kunden beugte, stellte sie sich oft vor, wie sie das Gleichgewicht verlor und Hinterkopf oder Gesicht unter ihrem großen, schweren Busen begrub.

„Worüber lachst du?“

Ihre Mutter stieß sie in die Seite.

„Komm, wir sind dran.“

Tante Hannelore eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

„Jetzt bin ich für euch da.“

Dann sah sie die Puppe, die Edith immer noch an sich gepresst hielt.

„Ein Tänzer! Wie schön. Wo ist denn die Tänzerin?“

„Ich weiß nicht.“

Ratlos sah Edith den kleinen Mann an, sein lachendes Gesicht und seine ausgebreiteten Arme, spürte seine schmale Taille in ihrer Handfläche. Warum hatte ihre Mutter ihr nicht gesagt, dass er ein Tänzer war und eine Tänzerin dazu gehörte? Vielleicht lag die Tänzerin noch im Gebüsch. Sie schluckte.

„Na, guck nicht so traurig. Pass mal auf.“

Ehe sie sich versah, hatte Tante Hannelore ihr den kleinen Mann aus der Hand genommen, summte eine Melodie und drehte sich schwungvoll durch den Raum. Dabei hob sie ihn mit beiden Händen über den Kopf, sah zu ihm auf und lächelte ihm zu. Ihre Augen glänzten und ihr Gesicht rötete sich. Die Spiegel warfen ihr Bild zurück und verwandelten den Salon in einen Saal voller Tante Hannelores, deren füllige Körper von allem Gewicht befreit an Sesseln, Waschbecken und Trockenhauben vorbei schwebten, mit kleinen, schlanken Männern in den Händen, zu denen sie das Gesicht aufhoben. Schließlich beendeten sie den Tanz mit einer letzten eleganten Drehung. Die Spiegel leerten sich. Tante Hannelore kam zu ihr, noch etwas außer Atem, und drückte ihr das Figürchen wieder in die Hand. „Pass schön auf ihn auf. Tänzer findet man schwer und verliert sie leicht.“

Abends beschloss Edith, dass der kleine Mann in ihrem Bett schlafen sollte. Sie hob bereits die Decke, um schnell darunter zu schlüpfen, als sie auf die Idee kam, Tante Hannelores Tanz auszuprobieren. Sie hatte noch nie getanzt. Im Kindergarten turnten sie manchmal und sangen dazu, aber alle mussten gerade stehen und auf Kommando dieselben Bewegungen machen. Sie hob den kleinen Mann über ihren Kopf und begann sich zu drehen. Zuerst langsam, dann immer schneller. Die Decke kreiste über ihr, und schon bald nahm ihr Kopf die Bewegung auf und wurde leicht. Noch nie hatte sie etwas gefühlt, das diesem wirbelnden Taumel glich. Der kleine Tänzer schwebte über ihr und drehte sich mit ihr im selben Rhythmus. Während ihre ausgestreckten Hände seine Taille umfasst hielten, war sie sicher, dass er wuchs und ihr mit seinem Körper Halt gab. So konnte sie sich ganz dem wilden Kreisen hingeben. Es dauerte lange, bis sie müde wurde und stehen blieb. Die Decke drehte sich immer noch, aber der Tänzer gab ihr mit seiner Taille Halt und sorgte dafür, dass sie nicht stürzte. Dann wurde das Kreisen langsamer und hörte schließlich auf. Tante Hannelore hatte Recht. Sie würde gut auf den kleinen Mann aufpassen. Sie würde ihn nie wieder hergeben.

Kapitel 2

Der Alte hatte nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit einem Tänzer. Eher mit einem Riesen, dem sein Körper zu groß geworden war. Jede Bewegung war ein wütender Kampf mit dem schweren Leib und den überlangen Armen. Er stapelte Holz an der Wand eines baufälligen Hauses, trug es von einem Haufen neben einem Hackklotz dorthin. Nahm nie mehr als vier Scheite auf einmal. Wackelte beim Gehen wie jemand, der versucht, aus einem schwankenden Kahn ans Ufer zu treten. Seine schütteren Haare bewegten sich im Wind wie Wollgras. Die Strickjacke war über die Schulter nach unten gerutscht und entblößte ein schmutziges Unterhemd über gebräunter Haut voller Altersflecken. Im Spiel der Schultermuskeln zuckte ein Echo der einstigen Riesenkraft. Konnten seine Arme noch festhalten? Wie würde sich sein Bart anfühlen, wenn sie ihre Wange auf seiner Brust ruhen ließe? Sie biss sich auf die Unterlippe, als gäbe es einen Zeugen ihrer Gedanken, vor dem sie sich schämen müsste. Dann sah sie, dass die Brust des Alten nicht zum Anlehnen einlud. Sie lag eingesunken unter seinem Bart wie eine Grube unter dichtem Gestrüpp.

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