Silke Grigo
Findeltochter - Vaterkind
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Inhaltsverzeichnis
Titel Silke Grigo Findeltochter - Vaterkind Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Impressum neobooks
Edith fand die Puppe am Rand eines Trümmergrundstücks unter einem Strauch, dessen weiße Blüten winzigen Schuhen glichen. Sie war stehen geblieben, um die seltsamen Gebilde zu bewundern. Ihre Mutter hatte zuerst versucht, sie weiterzuziehen, dann jedoch innegehalten. Vielleicht faszinierte die Schönheit der Blüten auch sie. So ließ sie ihr Zeit, mit ihrer Nasenspitze die Ränder der kleinen Höhlen zu berühren und ihren Duft einzuatmen. Sie streichelte die Blüten und wunderte sich darüber, dass sie ihre Zartheit mit ihren Fingerkuppen kaum ertasten konnte. Eine Blüte löste sich vom Zweig, und sie folgte ihr mit den Augen, bis sie sanft auf der Erde landete, als sei sie der Schuh einer Fee, die behutsam ihren Fuß dort aufsetzte. Dann erblickte sie den kleinen Mund, der sie durch die Zweige anlächelte. Sie ging in die Hocke.
„Pfui, Edith, lass das liegen.“
Die Stimme ihrer Mutter strich kühl über ihren Nacken, als fiele ein Schatten darauf. Sie hob die Puppe trotzdem auf und blies behutsam die kleinen Erdklumpen fort, die sich in der Kleidung verfangen hatten.
„Guck mal, ein kleiner Mann.“
Er war seltsam gekleidet, in eine beigefarbene, eng anliegende Hose und eine Bluse mit winzigen Stickereien. Auf seinen strohigen Haaren saß eine schwarze Kappe mit steil nach oben geklapptem Filzrand. An den Füßen trug er winzige braune Schuhe mit gekreuzten Lederbändern über dem Spann. Das Gesicht bestand ebenfalls aus zarten Stickereien: einem lächelnden roten Mund, schwarzen, punktförmigen Augen und einer kleinen, spitzen Nase. Sie drehte das Figürchen zwischen ihren Fingern hin und her. Sein Filzkörper schmiegte sich weich unter ihre Fingerkuppen. Mit den ausgestreckten Armen und Zehenspitzen fühlte er sich lebendig an, als sei er mitten in einer Bewegung, die seine Muskeln und Sehnen anspannte. Im Kindergarten spielten sie manchmal mit Puppen, die wie Handwerker oder Bauarbeiter angezogen waren. Aber dieser kleine Mann trug keine Arbeitskleidung und keinen Helm.
„Was hat er an?“
„Eine Tracht.“
„Wozu braucht man eine Tracht?“
„Leute auf dem Dorf tragen sie beim Fest.“
Die Stimme ihrer Mutter klang jetzt ungehalten.
„Komm, wir müssen weiter. Tante Hannelore wartet schon.“
Sie umklammerte die Puppe fest, während ihre Mutter sie mit sich fortzog.
Als sie den Frisiersalon betraten, hob Tante Hannelore gerade schwungvoll die Trockenhaube vom Kopf einer Kundin und rief ihnen über die Schulter zu: „Setzt euch schon mal, ihr Lieben. Ich muss gerade noch Frau Rosinski fertig machen.“ Edith fand Trockenhauben unheimlich. Bestimmt konnte man darunter ersticken. Sie würde sich niemals so ein Ding über den Kopf stülpen lassen, auch wenn Tante Hannelore immer behauptete, Frauen würden dadurch schön. Jetzt nahm sie der Frau Rosinski das Netz vom Kopf und begann, mit flinken Bewegungen die Lockenwickler aus ihren Haaren zu lösen. Immer wieder wunderte Edith sich über ihre schlanken und behenden Finger. Dabei war Tante Hannelore dick, und wenn sie sich über einen Kunden beugte, stellte sie sich oft vor, wie sie das Gleichgewicht verlor und Hinterkopf oder Gesicht unter ihrem großen, schweren Busen begrub.
„Worüber lachst du?“
Ihre Mutter stieß sie in die Seite.
„Komm, wir sind dran.“
Tante Hannelore eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
„Jetzt bin ich für euch da.“
Dann sah sie die Puppe, die Edith immer noch an sich gepresst hielt.
„Ein Tänzer! Wie schön. Wo ist denn die Tänzerin?“
„Ich weiß nicht.“
Ratlos sah Edith den kleinen Mann an, sein lachendes Gesicht und seine ausgebreiteten Arme, spürte seine schmale Taille in ihrer Handfläche. Warum hatte ihre Mutter ihr nicht gesagt, dass er ein Tänzer war und eine Tänzerin dazu gehörte? Vielleicht lag die Tänzerin noch im Gebüsch. Sie schluckte.
„Na, guck nicht so traurig. Pass mal auf.“
Ehe sie sich versah, hatte Tante Hannelore ihr den kleinen Mann aus der Hand genommen, summte eine Melodie und drehte sich schwungvoll durch den Raum. Dabei hob sie ihn mit beiden Händen über den Kopf, sah zu ihm auf und lächelte ihm zu. Ihre Augen glänzten und ihr Gesicht rötete sich. Die Spiegel warfen ihr Bild zurück und verwandelten den Salon in einen Saal voller Tante Hannelores, deren füllige Körper von allem Gewicht befreit an Sesseln, Waschbecken und Trockenhauben vorbei schwebten, mit kleinen, schlanken Männern in den Händen, zu denen sie das Gesicht aufhoben. Schließlich beendeten sie den Tanz mit einer letzten eleganten Drehung. Die Spiegel leerten sich. Tante Hannelore kam zu ihr, noch etwas außer Atem, und drückte ihr das Figürchen wieder in die Hand. „Pass schön auf ihn auf. Tänzer findet man schwer und verliert sie leicht.“
Abends beschloss Edith, dass der kleine Mann in ihrem Bett schlafen sollte. Sie hob bereits die Decke, um schnell darunter zu schlüpfen, als sie auf die Idee kam, Tante Hannelores Tanz auszuprobieren. Sie hatte noch nie getanzt. Im Kindergarten turnten sie manchmal und sangen dazu, aber alle mussten gerade stehen und auf Kommando dieselben Bewegungen machen. Sie hob den kleinen Mann über ihren Kopf und begann sich zu drehen. Zuerst langsam, dann immer schneller. Die Decke kreiste über ihr, und schon bald nahm ihr Kopf die Bewegung auf und wurde leicht. Noch nie hatte sie etwas gefühlt, das diesem wirbelnden Taumel glich. Der kleine Tänzer schwebte über ihr und drehte sich mit ihr im selben Rhythmus. Während ihre ausgestreckten Hände seine Taille umfasst hielten, war sie sicher, dass er wuchs und ihr mit seinem Körper Halt gab. So konnte sie sich ganz dem wilden Kreisen hingeben. Es dauerte lange, bis sie müde wurde und stehen blieb. Die Decke drehte sich immer noch, aber der Tänzer gab ihr mit seiner Taille Halt und sorgte dafür, dass sie nicht stürzte. Dann wurde das Kreisen langsamer und hörte schließlich auf. Tante Hannelore hatte Recht. Sie würde gut auf den kleinen Mann aufpassen. Sie würde ihn nie wieder hergeben.
Der Alte hatte nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit einem Tänzer. Eher mit einem Riesen, dem sein Körper zu groß geworden war. Jede Bewegung war ein wütender Kampf mit dem schweren Leib und den überlangen Armen. Er stapelte Holz an der Wand eines baufälligen Hauses, trug es von einem Haufen neben einem Hackklotz dorthin. Nahm nie mehr als vier Scheite auf einmal. Wackelte beim Gehen wie jemand, der versucht, aus einem schwankenden Kahn ans Ufer zu treten. Seine schütteren Haare bewegten sich im Wind wie Wollgras. Die Strickjacke war über die Schulter nach unten gerutscht und entblößte ein schmutziges Unterhemd über gebräunter Haut voller Altersflecken. Im Spiel der Schultermuskeln zuckte ein Echo der einstigen Riesenkraft. Konnten seine Arme noch festhalten? Wie würde sich sein Bart anfühlen, wenn sie ihre Wange auf seiner Brust ruhen ließe? Sie biss sich auf die Unterlippe, als gäbe es einen Zeugen ihrer Gedanken, vor dem sie sich schämen müsste. Dann sah sie, dass die Brust des Alten nicht zum Anlehnen einlud. Sie lag eingesunken unter seinem Bart wie eine Grube unter dichtem Gestrüpp.
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