Sie näherte sich dem Alten, rief: „Guten Morgen!“ und bemühte sich, dabei unbeschwert zu klingen. Der Alte sah gar nicht zu ihr hin und machte eine Handbewegung, als verscheuche er ein lästiges Insekt.
„Gehen Sie! Ich habe keine Zeit!“
Wieder packte er den Stiel der Axt und rüttelte daran.
„Ich habe gestern vergessen zu bezahlen.“
Noch immer würdigte der Alte sie keines Blicks und fuhr mit seinen Bemühungen fort.
„Hau´n Sie ab!“
Im selben Moment, in dem er das sagte, löste sich die Schneide aus dem Klotz. Der Alte ließ sie auf dem Holz ruhen, hielt den Stiel fest und keuchte. Dann riss er auf einmal die Axt blitzschnell hoch über seinen Kopf, drehte sich in ihre Richtung und brüllte:
„Haben Sie nicht gehört? Oder soll ich Ihnen Beine machen?“
Sie erstarrte. Sah, wie seine Hüfte seitlich einknickte und er taumelte. War plötzlich bei ihm, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, stemmte eine Hand gegen seine Schulter, um seinen Fall abzuwehren, griff mit der anderen nach dem Stiel und schleuderte die Axt fort. Durch ihre Seite zuckte ein reißender Schmerz. Sie presste auch die andere Hand gegen seine Schulter, spürte sein Gewicht. Es gelang ihr, seinen Körper zu halten und aufzurichten. Er keuchte, als würde er im nächsten Augenblick ersticken. Sie hielt weiter seine Schulter fest, wartete, bis er wieder ruhig atmete. Es dauerte lange.
„Können Sie allein stehen?“
Er nickte. Langsam ließ er sich auf dem Hackklotz nieder und senkte den Kopf. Er wirkte benommen. Seine Haare waren verklebt und strähnig. Auf seiner stark geröteten Glatze perlte Schweiß.
„Haben Sie einen Hut? Sie holen sich sonst einen Sonnenstich.“
„In der Küche. Hinten.“
Er sprach leise und atmete wieder schwer.
Sie ging hinter das Haus und betrat die Glasveranda. Drinnen herrschte Chaos. Ein schaler Geruch nach ungewaschener Kleidung, faulenden Essensresten und Schmutz sickerte wie eine zähflüssige Masse in ihre Nase. Sie bekam das Gefühl, ihre Nasenlöcher verschlössen sich. An der linken Wand stand eine Spüle, auf der sich ungewaschenes Geschirr türmte. Der Topf auf dem Herd daneben war mit schimmligen Überresten einer Soße verklebt. Sie wandte den Blick nach rechts zu einem Küchentisch, der mit weiteren Geschirrstapeln, schmutzigen Gläsern und alten, noch säuberlich zusammengefalteten Zeitungen bedeckt war. Da, wo der einzige Küchenstuhl stand, lag ein krümelübersätes Frühstücksbrettchen mit einem marmeladebeschmierten Messer, auf dem Fliegen krabbelten. Neben dem Brettchen stand eine durchsichtige Flasche mit der blassgelben Flüssigkeit, die der Alte ihr gestern als Holunderbeerwein vorgestellt hatte. An der Stuhllehne hing ein brauner Hut aus Wildleder mit einer weichen Krempe. Er sah genauso aus wie der, den der junge Otto Guse auf dem Foto trug. Sie griff danach. Dann nahm sie ein Glas vom Tisch, spülte es aus und füllte es mit Wasser. Auch um die stinkenden Teller in der Spüle summten Fliegen.
Draußen wurde ihr übel, und ihr Mageninhalt schoss in ihre Kehle. Sie kam gerade noch dazu, sich vorzubeugen und Hut und Glas so weit wie möglich von sich weg zu halten, bevor sie sich übergeben musste. Es dauerte nur Sekunden. Das Erbrochene schoss aus ihrem Mund wie herauskatapultiert. Danach war ihr Mund trocken und ihr schwindelte. Der Hund kam um die Ecke getrabt und steckte seine Nase hinein. Sie sah zu, dass sie so schnell wie möglich wieder zu dem Alten kam.
„Hier.“
Ihre Stimme klang noch belegt, aber ihr Magen hatte sich beruhigt. Der Alte saß immer noch mit gesenktem Kopf auf dem Klotz, aber als er sie hörte, sah er hoch und nahm Hut und Glas entgegen.
„Danke.“
Er trank das Glas mit bedächtigen Schlucken in einem Zug leer.
„Ah, das tut gut.“
Sein Seufzer klang behaglich. Da fing ihr Körper auf einmal an zu zittern.
„Ich habe ja Glück gehabt, dass Sie nicht mehr so gut in Form sind.“
„Warum?“
Er sah zu ihr hoch, als wisse er nicht, wovon sie redete. Die Krempe lag halb über seinen Augen, was sie unter anderen Umständen lächerlich gefunden hätte.
„Sie wollten doch mit der Axt auf mich einschlagen.“
„Ach was. Ich wollte weiter Holz hacken und habe mich dabei kurz zu Ihnen umgedreht.“
„Und gebrüllt, dass Sie mir Beine machen.“
Er sah wieder vor sich hin.
„Ich habe mich geärgert, weil Sie mich gestört und nicht locker gelassen haben.“
Die Beschuldigung verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Sie war also verantwortlich dafür, dass es so weit gekommen war. Noch während sie überlegte, ob es klug war, weiter mit ihm zu streiten, sagte er:
„Gute Frau, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie behalten das Geld und lassen mich in Ruhe. Die Gastwirtschaft ist nämlich geschlossen.“
„Was erzählst du für Lügen!“
Das Gesicht ihrer Mutter sah blass und zerfurcht aus, und die Haare standen wirr um ihren Kopf, als sei sie durch einen heftigen Wind gelaufen. Sie war gerade mit zwei prall gefüllten Einkaufstaschen zur Wohnungstür hereingekommen, während Edith auf dem Weg durch den Flur in die Küche war, um sich ein Glas Milch zu holen. Ehe sie sich versah, packte ihre Mutter sie an beiden Schultern und schüttelte sie. Sie prallte mit dem Rücken gegen die Wand.
„Sieh mich nicht so an mit deinen Unschuldsaugen. Du weißt genau, wovon ich rede.“
Sie wusste es nicht. In ihrem Körper kämpften ein großes Zittern und eine ebenso große Starre einen wilden, unentschiedenen Kampf. Sie konnte sich nicht rühren, nicht einmal ihren Mund öffnen.
„Komm!“
Ihre Mutter ließ ihre Schultern los und schloss mit blitzartiger Geschwindigkeit eine Hand wie einen Schraubstock um ihren Arm.
„Zieh dir was über, los, los!“
Sie gehorchte, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Dann zog ihre Mutter sie ins Treppenhaus, die Treppe hinunter, auf die Straße. Das Sonnenlicht glich einem Hohnlachen. Immer noch hielt ihre Mutter ihren Arm mit eisernem Griff fest und lief, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie kaum Luft bekam. Sie stolperte hinterher. Dann standen sie vor dem Haus, in dem Hildegard wohnte. Ein Klumpen fiel in ihren Magen und erzeugte eine Übelkeit, aus der eine leise, noch vage Ahnung aufstieg.
„Los, mach schon. Ich habe nicht vor, meinen ganzen Tag mit deinen Lügen und ihren Folgen zu verbringen.“
Sie glaubte zu ersticken. Ihre Knie gaben bei jeder Stufe nach, aber die Hand ihrer Mutter zerrte sie unbarmherzig die sechs Stockwerke hoch.
Als Hildegards Mutter die Wohnungstür öffnete, schlug ihr Herz in ihrer Kehle, und sie konnte nur noch verschwommene Umrisse sehen.
„Ich bin mit meiner Tochter gekommen, damit sie den Mist, den sie verzapft hat, richtig stellt.“
„Ach Gott“, sagte Hildegards Mutter, dann lange nichts und dann noch einmal: „Ach Gott. Nun nehmen Sie das doch nicht so tragisch, Frau Ohm.“
„Doch.“
Sie spürte, dass der Körper ihrer Mutter bei diesem Ausruf bebte.
„Edith muss lernen, dass Lügen Konsequenzen haben. Sie muss lernen, Verantwortung zu übernehmen. Wir stören Sie auch nicht lange. Hildegard ist doch da?“
„Ja“, antwortete Hildegards Mutter mit einem leisen Zögern, dem Edith unter der Hülle der Verzweiflung, die sie umgab, schon anhörte, dass sie nachgeben würde.
„Aber wir sind gerade beim Essen.“
Dann öffnete sie die Wohnungstür ganz und ließ sie ein. Ediths Herz raste in ihrer Brust wie ein verängstigtes und zorniges Tier in einem Käfig. Ihr Herz würde sie erschlagen. Sie atmete nicht mehr. Die Hand ihrer Mutter, die ihre eigene immer noch mit hartem Griff fest hielt, zitterte jetzt so stark, dass dieses Zittern auch auf ihren Körper übergriff. Hatte ihre Mutter auch Angst?
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