„Rings die ernteschweren Auen sind vor Freude licht und laut. Was die Väter kühn erbauen, ist uns morgen anvertraut.“
Tante Hannelore näherte sich schmunzelnd mit ihrem alten Fotoapparat, den sie über den Krieg gerettet hatte. Sie drückte auf den Auslöser.
Edith öffnete die Augen und richtete sich im Bett auf. Es war sinnlos, sich an Begebenheiten zu erinnern, die sich längst als Trugbilder entpuppt hatten. Das Foto gab es nicht mehr, seit Rüdiger es vor vielen Jahren zerstört hatte. Die Bauten der Väter hatten sich als tödliches Gefängnis erwiesen und waren eingestürzt. Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging unter die Dusche. Das warme Wasser, das ihre Haut umspülte, tat gut. Es bereitete sie auf den Tag vor, ließ sie spüren, dass sie hier und jetzt lebte. Die Bilder, die ihr eben noch so deutlich vor Augen gestanden hatten, verflüchtigten sich.
Nach dem gestrigen Einkauf hatte sie die Schranke offen gelassen, sodass sie dieses Mal an den Hof heranfahren konnte. Den Alten hatte sie nicht um Erlaubnis gefragt. Die Treffen mit ihm waren mühsam genug. Daher war sie entschlossen, sich jede mögliche Erleichterung zu verschaffen. Wieder wartete sie eine ganze Zeit, ohne dass er sich zeigte. Dann ging sie ins Haus.
Er saß am Küchentisch und schlief. Sein Gesicht und sein Oberkörper lagen auf der Tischplatte, die das gleichmäßige Geräusch seines Atems zurückwarf und verstärkte. Alkoholausdünstungen vermischten sich mit den Gerüchen nach Schmutz und verdorbenem Essen. Neben dem Stuhl, auf dem er saß, lag eine leere Flasche auf dem Boden. Auf einmal hatte sie keine Kraft mehr, ihren Ekel zurückzudrängen. Die Verkommenheit des Alten und seiner Behausung schienen in ihren Körper einzudringen wie eine ansteckende Krankheit. Noch hätte sie eine Chance, sich zu entziehen und die Ansteckung zu verhindern. Doch sie blieb stehen, in einer Mischung aus Lähmung und Erwartung. Seine Atemzüge wurden jetzt unregelmäßig, er schnaufte einmal, hob den Kopf und sah sie aus trüben Augen an.
„Was machen Sie hier?“
Die Worte klangen undeutlich, verwaschen.
„Wir waren verabredet.“
„Ich verabrede mich nicht.“
Sein Kopf sank auf den Tisch zurück.
„Wir wollten die Brombeeren ernten. Erinnern Sie sich?“
Sie hatte gehofft, dass sie während des Pflückens und Einkochens endlich dazu kommen würde, ihm Fragen zu stellen und ihn zum Erzählen zu bringen. Wenn ihr das nicht gelang, verschwendete sie bloß ihre Zeit. Der Alte nuschelte etwas Unverständliches in seinen Ärmel.
„Ich mache Ihnen einen Kaffee.“
Ohne seine Reaktion abzuwarten, nahm sie die Kaffeedose vom Regal, füllte einen Filter und setzte Wasser auf. Das Verstauen der Einkäufe hatte ihr Gelegenheit gegeben, sich mit der Küche vertraut zu machen. Während das Wasser kochte, wurden die Atemzüge des Alten wieder tief und gleichmäßig, aber sobald er den Duft roch, schreckte er hoch.
„Grete?“ Dann sah er sie, und sein Gesicht fiel ein. Sie schüttete schweigend den Kaffee ein und stellte die Tasse vor ihn auf den Tisch. Er leerte sie in einem Zug.
„Trinken können Sie wirklich.“
Als er nicht antwortete, nickte sie zu der leeren, am Boden liegenden Flasche hinüber.
„Das macht alles nur noch schlimmer.“
Er grinste und schnalzte ein paar Mal mit der Zunge.
„Ich hatte schon vergessen, dass Sie Mutter Teresa sind, Helferin der Gestrauchelten.“
„Was haben Sie gegen Mutter Teresa?“
„Ich glaube nicht an Barmherzigkeit.“
Er artikulierte das „b“ übertrieben, ließ es zwischen seinen Lippen explodieren, sodass die Ironie unüberhörbar war. „Mutter Teresa oder wie diese Frauen auch heißen, wollen nur eins: Die Schwachen am Gängelband führen.“
„Wie kommen Sie darauf?“
Er schüttelte den Kopf.
„Ist nicht wichtig. Geht Sie nichts an.“
Dann schob er abrupt, mit einer rüden Geste, die Tasse über den Tisch in ihre Richtung.
„Los, machen Sie mir noch einen.“
Der Ärger nahm ihr für eine Sekunde den Atem.
„Wenn Sie mich freundlich darum bitten.“
Er legte den Kopf zurück, während ein meckerndes Gelächter aus seinem weit geöffneten Mund hervorbrach. Der Zahn stand in seinem Unterkiefer wie eine verlassene, längst vergessene Ruine. Da, wo er aus dem eingefallenen Zahnfleisch wuchs, zeichnete sich ein schwarz verfärbter Rand ab.
„Sehen Sie, wie Recht ich habe? Angeblich wollen Sie mir helfen, aber nur, wenn ich schön artig bin.“
Wieder lachte er meckernd auf.
„Sie haben keinen Respekt.“
Die Worte kamen in flachen Stößen aus ihrem Mund, weil sie kurzarmig geworden war vor Beklemmung.
„Oho! Respekt!“
Er rollte das „r“ und zog es spöttisch in die Länge wie ein schlechter Schauspieler.
„Das ist fast so gut wie Barmherzigkeit.“
Weil ihr nichts Besseres einfiel, nahm sie die Kanne und goss Kaffee in seine Tasse. Er bedankte sich nicht. Ich muss aufhören, seine Unverschämtheiten zu ignorieren, dachte sie. Er verbucht mein Schweigen als Sieg. Als wolle er diese Einsicht bestätigen, stützte der Alte beide Arme auf den Tisch, reckte sich ein wenig und sah sie mit vor Gemeinheit blitzenden Augen an.
„Warum tragen Sie immer dieses Ballettröckchen? Dafür sind Sie doch viel zu alt.“
Ich muss es genauso machen wie er, dachte sie, und zum Gegenangriff übergehen.
„Mokieren Sie sich mal nicht über mein Alter. Sie könnten mein Vater sein.“
„Darum trage ich auch schon lange keine kurzen Hosen mehr.“
„Aber hin und wieder Ihren nackten Hintern spazieren. Ist das etwa altersgerecht?“
Es kostete sie Überwindung, das Wort auszusprechen, doch sie hatte das Gefühl, dass sie den Kampf wenigstens einmal bis zum Ende ausfechten musste, statt sich immer nur zurückzuziehen. Gleichzeitig dachte sie: Ich lasse mich zwingen, seine Waffen zu benutzen. Das ist genauso schlecht. Wieder lachte der Alte, aber dieses Mal klang es sanft. Dazu nickte er anerkennend.
„Mädchen, du taust allmählich auf.“
Die nächste Unverschämtheit. Sie wurde schon wieder kurzatmig, als würde sie in einem viel zu engen Raum umhergehetzt.
„Eben war ich angeblich zu alt für meinen Rock, jetzt bin ich plötzlich ein Mädchen.“
Er schmunzelte immer noch. „Sie müssen die Dinge im Zusammenhang betrachten. Für den Rock sind Sie zu alt, aber im Verhältnis zu mir sind Sie ein Mädchen. Ich darf das sagen, weil Sie meine Tochter sein könnten.“
„Haben Sie denn Kinder?“
Er schüttelte den Kopf, während er die Pfeife aus seiner Hosentasche fingerte und auf den Tisch legte. Dann sah er sie wieder mit blitzenden Augen an.
„Sie muss ich danach gar nicht fragen. Wenn Sie Mutter wären, würden Sie kein Röckchen tragen wie ein junges Ding in der ersten Tanzstunde. Sie sehen aus, als wären Sie auf der Stufe eines kleinen Mädchens stehen geblieben.“
Auf einmal hatte sie das Gefühl, ihre Beine würden unter ihrem Körper weggezogen. Du holst dir einen Schaden. Das spielte keine Rolle. Sie würde nie ein Kind bekommen. Nie mehr. Ihr Unterleib verspannte sich in einem schmerzhaften Krampf. Sie war in einem eisigen Nebel aus Schmerz festgefroren und musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen. Währenddessen hatte der Alte die Pfeife angezündet und beobachtete sie mit zusammengekniffenen Lidern durch die Rauchwolke. Ein geübter Schütze. Sie war ihm nicht gewachsen. Es dauerte lange, bis sie sich wieder in der Lage fühlte zu sprechen
„Haben Sie einen zweiten Stuhl, damit ich mich setzen kann?“
„Nein. Die anderen Stühle habe ich zerhackt und verfeuert. Konnte sie nicht mehr sehen, als Grete tot war. Sieh her, du bist allein, sagten sie mir ständig. Und das wirst du bleiben.“
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