Wir verließen gemeinsam den Raum. Gustav ging zum Empfang, nahm noch ein paar Unterlagen vom Tresen und strebte der Ausgangstür zu. Wir sahen ihm nach, gingen dann aber in mein Büro. Wir nahmen in der Sitzecke Platz. Bruckner legte seinen Mantel über die Lehne des freien Stuhls und atmete einmal tief durch.
»Netter Mensch!«, sagte er schließlich. »Ich denke, Sie haben wirklich eine nette Familie.«
»Ich bin aber selbst auch ganz schön nett«, erwiderte ich.
Bruckner nickte. »Stimmt, und das nicht nur, weil Sie so viel Geduld mit mir haben.«
»Sie sind besser drauf, als in der vergangenen Woche«, stellte ich fest. »Und dabei ist Ihr HSV in München doch mit neun zu zwei Toren untergegangen.«
Bruckner schüttelte mit dem Kopf. »Wichtigkeit! So etwas lässt mich im Moment kalt, ist mir sogar völlig egal, und das hat auch einen Grund. Erstens habe ich mir mein Büro zurückgeholt. Ich sitze wieder in meiner Sternspitze.«
»Im Polizeipräsidium am Bruno-Georges-Platz?«, fragte ich.
»Ja und das habe ich Ihnen zu verdanken, zumindest den Ruck, den ich brauchte, um es durchzusetzen.«
»Bitte, bitte, aber wie ist es dazugekommen?«
»Sie haben mich doch gefragt, ob ich suspendiert sei?«
»Entschuldigen Sie, aber das sah ein bisschen danach aus, nach dem, was Sie so über Ihre derzeitige Arbeit erzählt haben.«
»Tja, das habe ich meinen Chef auch gefragt, ob ich suspendiert sei. Wenn ja, solle er mir das schriftlich geben, weil ich dann etwas Besseres mit meiner Zeit anzufangen hätte. Wenn nein, sollte er mich meine Arbeit machen lassen.«
»Und was hat Ihr Chef gesagt?«
»Er hat rumgedruckst. Ich habe meine Frage wiederholt und er hat Nein gesagt: Nein, sie sind nicht suspendiert. Das war am Gründonnerstag. Gestern bin ich wieder in mein Büro eingezogen. Ich habe dem vorübergehenden Mieter über Ostern Zeit gegeben, das Feld zu räumen und außerdem habe ich meinem Chef gesagt, dass ich Anlass sehe, im Falle der aufgefundenen Schaufensterpuppen auf ein Gewaltverbrechen zu ermitteln.«
»Oh! War das nicht etwas voreilig?«, fragte ich.
Bruckner schüttelte den Kopf. »Ich habe es ihm ja erst heute Morgen mitgeteilt, und zwar nachdem ich ...«
Bruckner wandte sich kurz von mir ab und griff nach seinem Mantel. Er zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der Tasche im Innenfutter und legte sie vor mich auf den Besprechungstisch.
»Ich gehe davon aus, dass Sie es noch nicht gesehen haben«, sagte er schließlich.
Ich beugte mich vor. »Es gab eine Antwort auf den Leserbrief?«
»Das kann ich noch nicht sagen.« Bruckner faltete die Zeitung auseinander, blätterte auf die Seite zwei. »Für die Titelseite hat es nicht gereicht, aber das ist vielleicht ganz gut so. Lesen Sie!«, forderte er mich auf.
Ich nahm die Zeitung vom Tisch, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und las den Artikel. Ab und zu blickte ich von der Zeitung auf. Bruckner sah mir grinsend zu.
»Da steht Ihr Name«, sagte ich schließlich. »Haben Sie doch noch an das Blatt geschrieben?«
»Nein, nein, das haben die selbst herausgefunden, dass ich den Fall bearbeite. Ich weiß nicht wie, aber da gibt es Wege, und nachdem sie meinen Namen hatten, wussten sie ja auch, zu welchem Resort ich gehöre. Die haben mich wenigstens gleich richtig eingeschätzt, aber das ist eine andere Sache.« Bruckner lächelte. »Und, was halten Sie von dem Geschreibe?«
»Schlecht einzuschätzen, da werden eine Menge Fakten erwähnt. Wie weit war die Presse denn über die Spurenlage an den Fundorten der Schaufensterpuppen informiert?«
»Ja, ja, das ist ein Punkt«, sagte Bruckner schnell. »Das ist mir auch sofort aufgefallen. Ich habe noch nicht alles überprüft, aber zum Beispiel die Kleidermarke und die Konfektionsgröße des seidenen Pyjamas. Das kann nur ein Insider wissen.«
»Verstehe, entweder hat dieser ...« Ich bemühte noch einmal die Zeitung, suchte das Pseudonym unter dem Artikel. »... hat dieser ARTUS einen Polizeiinformanten ...«
»Oder er hat Kontakt zu dem oder den Tätern«, ergänzte Bruckner mich.
»ARTUS! Sie haben sich in den letzten zwei Wochen doch mit Hamburg Direkt beschäftigt, was hat dieser ARTUS denn sonst so veröffentlicht?«
»Das weiß ich nicht, müsste man noch mal recherchieren.« Bruckner tippte auf die Zeitung. »In der Ausgabe hier hat er aber nur diesen einen Artikel geschrieben.« Bruckner hatte auf einmal seine E-Zigarette zur Hand. Er nahm einen tiefen Zug, wie bei einer richtigen Zigarette. »Was halten Sie von der anderen Geschichte, die in dem Artikel erwähnt ist?«
Ich überlegte. »Schwer zu sagen. Eine unbekannte Frauenleiche, die mit einem Pyjama bekleidet ist. Wissen Sie, was mir da sofort einfällt: Sie legte sich schlafen für immer. - Sie trug das Kleid der Nacht. - Sie war lange ein Rätsel. - So oder so ähnlich lauteten doch die ersten drei Verse oder Zeilen auf dem Stück Thermopapier.«
Bruckner nickte. »Genau das ist es, woran ich auch gleich gedacht habe.«
»Und! Haben Sie die Story schon nachrecherchiert, ist das Ganze echt?«
»Ja, hab’ ich, zumindest so auf die Schnelle. Ein alter Kriminalfall, uralt und weit, weit weg von hier.«
Bruckner räusperte sich, steckte die E-Zigarette wieder weg und holte sein Notizbuch hervor. Er blätterte kurz darin.
»Sie hieß Linda Agostini, geboren 1905 in London als Florence Linda Platt. 1924 ist sie nach Neuseeland ausgewandert. 1927 ging sie nach Sydney, Australien. 1930 heiratete sie dort den gebürtigen Italiener Antonio Agostini. Sie zog mit ihm nach Melbourne. Am 27. August 1934 wird sie von ihrem Mann erschossen. Er hat später ausgesagt, er habe es nicht gewollt, sie hatten sich gestritten.«
»Also eine Beziehungstat«, stellte ich fest. »Und wie wurde nun aus dieser Linda Agostini das Pyjama Girl?«
»Dazu gibt es eine Geschichte, ich sage nicht, dass es die Fakten sind. Also, Toni Agostini bekommt Panik, nachdem er geschossen hat und ihm wird klar, was passiert ist. Er schafft die Leiche seiner Frau im Auto fort. Er versteckt sie an einer Landstraße in einem Abwasserkanal, übergießt ihren Kopf mit Benzin und zündet ihn an.«
»Das klingt so, als entspräche das nicht der Wahrheit.«
»So lautet die offizielle Version, die Seitens der Justiz noch immer Gültigkeit hat, aber dazu sag ich gleich noch was. Auf jeden Fall wurde die Leiche einer Frau, die mit einem grünen, seidenen Pyjama bekleidet war, wenige Tage später von einem Bauern gefunden.«
»Ein grüner Pyjama. Das ist eine Übereinstimmung. Ihre Schaufensterpuppen hatten doch auch alle grüne Pyjamas an, oder?«
»Ja, aber nur einer war aus Seide.«
»Woher haben Sie übrigens diese Details über das Pyjama Girl?«
»Internet, da steht alles drin, man braucht gar nicht lange zu suchen.«
Ich nickte und Bruckner fuhr fort. »Also, Linda Agostini war mit einem grünen Pyjama bekleidet. 1934 war man nicht in der Lage sie zu identifizieren. Die Presse hat ihr daraufhin den Namen Pyjama Girl gegeben. Da der Fall nicht geklärt werden konnte, wurde die Leiche zehn Jahre lang in einem Formalinbad konserviert. Gruseliger Gedanke, was?« Bruckner räusperte sich. »Anfang der vierziger Jahre rückte das Pyjama Girl dann wieder ins Blickfeld der Justiz. Die Fakten wurden noch einmal zusammengetragen. Schon 1934 gab es den Verdacht, dass die tote Frau Linda Agostini sein könnte. Diese Spur wurde wieder aufgenommen, forensische Beweise wurden erneut überprüft, unter anderem wurde der Zahnstatus der noch unbekannten Leiche mit dem von Linda Agostini verglichen. 1934 war da wohl was schiefgelaufen. Das Ganze lieferte gerade erste Ergebnisse, als zufälligerweise Toni Agostini im Jahre 1944 aus der Internierung freikam. Er war ja Italiener, zählte also zu den Kriegsgegnern der Engländer und Australier. Achsenmacht Italien und so weiter, sie wissen schon. Auf jeden Fall nahm sich ein Polizeiermittler Agostini vor und er gestand schließlich.«
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