Nun konnte es sich langsam von den Halmen lösen, gegen die der Schnee es gedrückt hatte.
Es konnte erkennen, wie das Licht der Sonne nach und nach die Schneedecke aushöhlte, wie ihr Licht fast flutend hindurch kam, warm und gleißend hell nach der langen Zeit in Dunkelheit, wie die anderen Blumen und all die Gräser sich erhoben und mit aller verbliebener Kraft ihre Leiber gegen die weiße Pracht stemmten, um gegen die tödliche eisigkalte Zerdrückung anzukämpfen.
Und da brach es plötzlich!
Unweit des kleinen Tausendschöns stürzte die untertunnelte Schneedecke. Eine warme Sonnenflut strömte hinein, als sich die befreiten Gräser und Blumen zur Sonne reckten und den verbliebenen Schnee in ihren Schatten begruben.
Das Licht berührte auch das kleine Tausend-schön, so wie es die Gräser und Blumen in seiner Nähe berührte. Es war noch schwach, doch warm und wunderschön.
Und da brach es erneut!
Ferner als zuvor, doch hörbar.
Und wieder brach es irgendwo!
Das Tausendschön wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die weiße Pracht besiegt sein würde. Es gab nicht auf, jetzt nicht mehr. Es kämpfte fort und fort unter den sich mehrenden Geräuschen stürzenden Schnees.
Und dann stürzte er auch bald über dem kleinen Tausendschön!
Er drückte wenige Blütenblätter krumm. Es schmerzte, doch das Tausendschön ertrug es tapfer und hob weiter und weiter sein Köpfchen in die frische klare Luft und zur gleißend hellen Sonne.
Wenige Augenblicke später stand das Tausendschön aufrecht. Der Schmerz versiegte rasch zu einem dröhnenden Surren und so harrte es für eine Weile, ließ sich sanft wiegen von dem Winde, ließ die Sonne den letzten Rest des Schnees verdunsten, der als feuchter Film an ihm haftete.
Stille überkam das Tausendschön, als das Surren nachließ. Eine beklommene Taubheit umhüllte es. Sie hielt das Tausendschön aufrecht, doch nahm ihm den Willen und die Fähigkeit, sich zu rühren. Es tankte Sonnenlicht, Wärme, die sein Frieren beendete, Ruhe nach all den Stunden der Verzweiflung und des Kampfes. Bis hin zu dem Moment, als das erste Zwitschern über sein Köpfchen flog. Da erwachte das Tausendschön aus seiner Starre, da hörte es das ferne und das nahe Vogelsingen, das triumphal in halsbrecherischen Manövern über das erblühende Schlachtfeld zog. Nun endlich war es soweit: Das Tausendschön öffnete sein Köpfchen, spreizte die Blütenblätter, auch die krummen, so weit es konnte.
Überall auf der Wiese stieg ein Jubel in den Vogelsang mit ein, während die letzten Reste der weißen Pracht in den Schatten der Siegreichen eingingen. Die Kälte verschwand; das Licht war hell; die Sonne spendete ihnen Wärme.
Und da wusste es das kleine Tausendschön mit einem Mal: Dieser Winter war vorüber! Auch wenn ihm klar war, dass irgendwann im endlosen Kreislauf des Seins ein weiterer Winter seine weiße Pracht über die Welt bringen würde, so wusste das kleine Tausendschön ganz sicher, dass immerzu ein Frühling folgen würde, in dem das Leben aufblühte.
[veröffentlicht am 21. März 2018]
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