„Hab mein Haus gekauft, das in dem ich wohne, will doch jeder mal? Hab die sogar alle drinnen wohnen lassen. Und zwei Bibliotheken, muss ich die Bücher nich mehr zuhause stapeln!“ Alex lobte: „Toll, Leo.“ Ich erzählte ihr mein Nicht-Rausgeh-Dilemma und dass ich Serien wie „Boardwalk Empire“ und „Sopranos“ durch zehn Mal hintereinander kucken analysierte. „Nicht sehr spannend“, gab Alex zu. „Wegen Steve Buscemi“, ergänzte ich, „die ‘Sopranos’ wegen…auch wegen Steve Buscemi…“ Da gähnte Alex, hielt sich die rechte Hand vor den Mund und löste diese dazu vom Lenkrad, während die linke da eh die ganze Fahrt noch nicht zugepackt hatte. Panik ergriff mich, wir schlingerten, und ich war drauf und dran einzugreifen, nur wie? Ich klemmte ja selbst zwischen Nackenstütze und Sicherheitsgurt. Ich wunderte mich, dass mir im rechten Gesichtsfeld immer so ein Schatten vor den Augen flatterte, bis ich bemerkte, dass da draußen so ne Drahtstange wie wild hin und her wedelte. Ne alte Antenne, dachte ich, sowas hatte die hier noch – ich sah mich verschüchtert um und bemerkte, dass ich in so ner uralt Schrottkarre gefangen saß, bei der sich unter Alex’ Fahrstil ihre Radioantenne draußen munter einen runterjodelte, die beiden schienen sich zuzugrinsen wie alte Freunde. Wenn meine Antenne nicht wackelt, bin ich nicht glücklich. Ich zeigte auf das Schüttelding, aber Alex ging erst gar nicht drauf ein, schien nicht mal zu merken, dass sie wie ne besoffene Nachtblinde munter über die Landstraße juckelte und sagte: „Da tut dir so n bisschen Realität ja richtig gut, Leo.“ Und Alex beschloss, unsere Augsburgfahrt zum Anfang meiner Therapie zu küren. „Therapie von was?“, fragte ich leicht hysterisch, mir tat schon die rechte Hand weh vom Festklammern. „Was machst du denn da?“ fragte Alex amüsiert und ruckelte in ihrem Fahrersitz herum wie ne flötende Ente auf’m Ententeich. Sie lachte sich eins. „Du siehst aus Leo, entschuldige, aber als wenn du dir da unterm Handschuhfach einen runterholst.“ „Was hole ich?“ fragte ich verängstigt. „Wovon willst du mich therapieren?“ Mir schien, als würde Schweiß meine Schläfen herunter laufen, und es war auch genau so. „Na Berlin“, frohlockte Alex, „ich therapier dich von deinem scheiß Berlin.“ Ich ertappte mich dabei, plötzlich Sehnsucht zu fühlen nach eben diesem scheiß Berlin, nach diesem netten „dit wird nüscht“-Aufmunterungsgerufe, das einen nur noch aggressiver seine Sache verfolgen lässt, das einen so aufzubauen vermag, dass man irgendwann die Straße langläuft und alles wegrammt; „und denne, denne wirste sehen, wird dit wat“ is ja auch ne Art Ansporn. Außerdem mag ich das Wort „Therapie“ nicht. Alex grübelte: „Na gut, dann nennen wir es Stufe zünden, wir zünden bei dir ne Raketenstufe, einverstanden?“ Die Vorstellung, dass mir Flammen aus dem Hintern raus kämen, tröstete mich nun auch nicht gerade. „Hach, Leo, so ne Rakete hat doch mehrere Stufen, erstmal Ballast abwerfen, das Schwerste, da fahren wir gerade hin, und dann zünden wir dir die nächsten Stufen, bis du am Ende alleine im Cockpit sitzt und alles fitty ist, okay?“ Sie gab sich ja wirklich Mühe mit mir, und das mit dem In ner Rakete Sitzen kam in jedem ihrer Lenkradschlenker und Pedaldurchtreter verdammt gut zum Ausdruck. Gut, also, Leo im Stufenprogramm, einverstanden. Andächtiges Schweigen. Aber dann fing Alex an zu quatschen. Autofahren, Lenkrad halten und die redete sich dabei einen, bis ich begriff, die meint mich, die erzählt das mir – ich muss da jetzt zuhören. Ich wollte gerade noch einwerfen: „Heh, ich bin’s der Leo, hab hier gerade mal eben zwei Jahre lang den Kunstbetrieb aufgemischt“, aber es konnte nicht spannender werden, als Alex zum großen Solo ansetzte, und sie erzählte mir nun ihrerseits erstaunliche Dinge, na wundervoll, und kulturell hochtrabend wählte sie das Thema Toilettenpapier: „Hör gut zu Leo, es is ja nun mal so, dass man ne Toilettenpapierrolle so rum anbringen muss, dass einem die Blattzunge aus dem Maul entgegen hängt.“ „Was?“ „Na entgegenhängt – dir – nicht an der Wand, nicht da so rumbaumelt, sondern auf deiner Seite.“ Als sie den Ausdruck Maul verwendete, musste ich unwillkürlich an die großen Münder dieser Mädchen denken, die Carl auf unser Ski-Hotel eingeladen hatte, weil er meinte, der Immendorff mache das ständig, also müsse es der Leo jetzt auch mal. Ich wollte dieser blöden Orgie gar nicht beiwohnen und höchstens mal zukucken. „Na, hat der Immendorff doch auch nur“, sagte Carl, und ich wieder: „Na wenn das schon einer gemacht hat, will ich’s sowieso nicht.“ Aber Carl kam mit seinem beschwichtigenden „Man muss die Leute da abholen, wo sie gerade sind.“ Ich frotzelte: „Wo denn bitteschön abholen? Wo sollen die denn sein? Die sind doch dauernd unterwegs. Vor lauter ‘Ich will das Neueste’ und ‘Das muss ich auch noch haben’ wissen die doch selber nicht mehr wo sie sind. Im Irrenhaus?“ Und dann sagte das Navigationsgerät von Alex, kurz Siri(1) genannt, ebenfalls Erstaunliches: Nach 50 Metern links abbiegen. Wir fuhren dauernd im Kreis. Wir fuhren andauernd an Baustellen vorbei, geradezu bewundernd befolgten wir Siris Ratschläge, wurden von Baustelle zu Baustelle geleitet, und beschlossen: Augsburg – hässlich. Das hat Siri wohl gewusst, wahrscheinlich haben all die Navigationsgeräte dieser Welt das gewusst, und alle haben ihren Spaß daran, ihre Fahrer im Kreis zu dirigieren. Die sind zusammengeschlossen, funken sich Kicherrülpser zu und feixen, hihi, die Menschen diese Blödis, die merken das gar nicht, hihi. „Ich war hier noch nie“, sagte Alex entschuldigend und ruderte am Lenkrad. „Das glaub ich nicht“, murmelte ich, weil ich angestrengt aus dem Fenster stierte und sehen wollte, ob die Leute, die hier rumliefen und auf diesen Baustellen wohnten, nen platten Hinterkopf haben, vom unters Handschuhfach klemmen. Hatten sie aber nicht. Als wir um eine Ecke bogen, fegte die Sonne plötzlich durch unsere Gesichter, Blende auf, von grau zu durchlichtet. Vor uns rollte sich ein bis zum Horizont reichendes Kopfsteinpflaster aus. Ein riesiger freier Marktplatz tat sich auf, direkt vor unseren Füßen, die gerade irgendwie zweisam in Siris Gas- und Bremspedalen verhakt schienen, denn ich gestehe, ich musste eingreifen. Wir sahen auf einmal Brunnen mit Skulpturen – richtig in Bronze gegossene lebensgroß Dastehende –, stattlich posieren und irgendetwas in der Hand halten, einen Schild oder sowas, Schlangen erschlagen und einen Unglimpf bekämpfen. Dazu sprudelte Wasser um sie herum. Wir sahen schöne Häuschen, graziös um den Marktplatz verteilt – angeordnet wie wir es schon in der Wiege mitbekommen haben, davor sämtliche Autos fein säuberlich 75 Grad in Reihe geparkt, wie im Spielzeugladen. Augsburg doch gut. „Jetzt machen wir ein Foto“, rief Alex. Bis heute gibt es nur das eine von mir, denn als ich von ihr ein Foto machen wollte, stellte sich der Leo zu doof an, mir zitterten irgendwie noch die Hände. Auf dem Marktplatz stehen jetzt nur Alexens Beine. Auf dem Weg zum Kleid, vorbei an den Skulpturen, beschlossen wir, dass die, die gerade einen Löwen erstach, von Leo sein müsste, und die, die gerade einen armen kleinen Drachen masakrierte, Carl verkörperte. Ja, ja, sagte ich, der Carl traut sich nur an arme kleine Drachen ran, und nen Helm hat der große Drachentöter auch noch auf. Nur für Alex stand noch nix rum, würden wir aber auch noch finden. Seitlich vorbei an einer imposanten Kirche, durch kleine Gassen, am Fuße einer Ritterburg, gerieten wir, der Adresse folgend, auf einen längs gezogenen Innenhof. Hier müssen einmal mehrere Scheunen nebeneinander als Herberge für Pferde gedient haben, jetzt umgebaut zu kleinen Wohnräumen. An der mittleren Scheune dann endlich der große Moment: Klingeln an der Tür. Ne Nette machte auf, die gleiche Wuschelfrisur, aber kleiner als Alex und noch dünner.
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