Null Ehrgeiz. Ehrgeiz minus 10. Das führt dazu, dass die eigene Anspruchslosigkeit auf manche wirkt wie Impotenz mit Muskelschwund und bei anderen zum erotischen Tranquilizer mutiert, man wirkt so cool, von allem entsagend. Man läuft, umringt von einer Traube bewundernder Freunde herum, mit nem Dauerständer in der Hose und strahlt es aus, dieses: Wozu das Ganze? Tatsächlich geriet der anschließende Kneipenaufenthalt mit Carls Schauspielerkolonne zu einer verbalen Orgie. Mir gefiel das prächtig. Es kam mir vor, als wollten die schon mal ihre Rollenfähigkeit vorführen. Ich lamentierte: „Wenn Schauspieler schauspielern is Schluss, da kann ich ja gleich deutsches Fernsehen kucken!“ In dieser Volldunkelkneipe trank jeder aus irgend nem Glas, meistens Bier, das gerade rumstand. Zigaretten wanderten halbgeraucht in fremde Münder und wieder zurück, aus Spaß begannen die ersten, sich anzuspucken. Ich kam mir vor, wie auf nem Punkkonzert – Stiff Little Fingers, Kant Kino 1980, Barbed Wire Love, als sie die vordersten Stuhlreihen rausgerissen haben. Irgendwann begannen sich Männlein und Weiblein abzuschlabbern und Grunzlaute auszustoßen, die Alex jauchzte: „Das machen wir immer so, Leo, wunder dich nich.“ Nur der Leo wurde nicht abgeschlabbert, ich bin ja ne Kunstfigur. Um drei Uhr war dann Schluss, irgendwer drehte mich zweimal in Laufrichtung und so wachte ich in der Wohnung von Carl auf, dummerweise als erster. Es hatte sich nichts geändert. Seit diesen 4.45-Uhr-Aufstehzeiten im Umweltgarten stand ich meist schon vor Sonnenaufgang kerzengerade irgendwie im Zimmer rum, während die halbe Welt noch schlief. Und ich war auch noch ausgeruht dabei. Selbst Donald Duck hat mehr geschlafen als ich.
Also wanderte ich durch Carls Kaff. Die Fußgängerzone – menschenleer. Ich ertappte mich dabei, es schon wieder zu machen wie in Berlin: Morgens rumlaufen. Aber dann geschah etwas, das in Berlin nie geschah: Mein Telefon klingelte. „Hier ist die Alex! Leo, wir fahren dann jetzt mal nach Augsburg!“ Es war acht Uhr. Die Alex hatte die Telefonnummer der Besitzerin des Kleids dieser Online-Auktion ausfindig gemacht und gleich noch die Adresse. Keine zwanzig Minuten später saß ich im Auto neben einer Alex, die grinsend aufs Gaspedal trampelte und mir erklärte, wenn ich jetzt abgesagt hätte, wäre sie gestorben. Dass ich aber eine Mann/Frau-Autophobie habe, weil ich mal in der Limousine von Carls Bruder ne halbe Stunde vergessen wurde, mit verschlossenen Türen, der voll aufgedrehten Musik von Rosenstolz und dem Haarspraygestank dieser Pink, die Lavendel nicht von Lauder unterscheiden konnte, interessierte Alex nicht. Ich konnte gerade noch „Landstraße“ japsen und sie tat mir sogar den Gefallen. Als ich dann beim Anblick der grünen Wiesen, abdeckenden Weite und sonnendurchfluteter Wolken über uns meine ersten Vorträge halten durfte, fühlte ich den vertrauten Leo in mir zurückkehren. Ich redete und redete, dass J. M. W. Turner – das J weiß ich nicht immer gleich sofort –, jedenfalls dieser Mullard William Turner in der Tate-Gallery Malwettbewerbe veranstaltet hatte, mit dem Landschaftsmaler Lorrain(0), und wenn dessen Wellen braun badeten, malte Turner sie noch gischtiger, und wenn dessen Berge verschneit waren, malte Turner sie noch flockenverdichteter. Dabei stimmte das gar nicht. Lorrain lebte viele Jahre früher, Turner bewunderte ihn nur, ich brachte alles wieder durcheinander, aber – ich fühlte mich besser. Die Alex ließ mich, was ich am besten konnte: quatschen. Das rettete mich. „Bei euch gibt es aber nette Leute“, sagte ich. „Ich finde diese bescheidene Einfachheit inzwischen viel spannender als dieses Rumgeturne auf dem Kunsttrapez da oben.“ „Ja“, triumphierte Alex, „da habe ich Glück gehabt. Bin auch erst zwei Monate hier. Und den Carl kenn ich also auch erst zwei Monate, na was man so kennen nennen beim Sehen kann.“ „Du meinst kennen vom Sehen nennen?“ Meinen Einwurf ignorierte sie. „Erst dacht ich immer, wer ist denn dieser ‘Berli’ und wer ‘Pauli’? Hab echt gebraucht, um dahinter zu kommen.“ Ich stutzte: „Wie, du liest die Textmails von Carl? Eines Carl C. Wildes Textnachrichten liest man doch nicht!“ „Nein, nein“, beruhigte Alex, „die zeigt er immer rum und dabei lacht er so verschmitzt, hat wohl mal mit diesem Berlusconi im Gefängnis gesessen und Pauli is natürlich der Papst, nur damit die Mails, falls die einer knackt, du verstehst …“ Ich schwieg, weil ich gar nichts verstand. Alex erklärte geduldig: „Carl muss sich auch jedes Halbjahr ein neues Auto kaufen, hier im Ort waren Zinnober/Cinnabar führend, jetze aber Blau/Metallic. Also muss er wieder los.“ Das ist doch Porno, dachte ich, Chrom Metallicgesabbere, Auto-Porno, nur Fassade! Was macht der Carl denn hier, was zieht der hier ab? Dann wurde mir klar, dass die uns für Berühmtheiten halten, den Carl und mich. Ach Quatsch, Blödsinn, wir sind berühmt! Na klar, dem Carl war das völlig egal. Während ich in Berlin schon zusammenzuckte, wenn mich einer nur anstarrte, knallte Carl hier seine Storys raus. Der warf hier nur so um sich. „Das erzählt euch der Carl so einfach alles?“, fragte ich ungläubig. Daraufhin wackelte Alex lustig mit den Schultern, wippte am Lenkrad wie Chaka Khan und trat aufs Gaspedal. Als sich der nächste Landstraßenhimmel aufmachte, lachte Alex sogar laut: „Aber Leo, muss er doch, er will doch das Buch verfilmen. Da braucht er jede Aufmerksamkeit. Is n richtiger Werbefilou der Carl, hat euch ja auch nach oben gebracht.“ Tja, das stimmte allerdings, dachte ich resignierend. Carl schien sein Selbstbewusstsein anderen wie eine Plastiktüte überzustülpen, so dass die gar nicht mehr anders konnten, als Erfolg zu haben. „Wieso sollst du eigentlich Regie führen?“ „Ich?“ fragte ich überrascht. „Find ich blöd“, legte Alex nach, „dass du dich auch noch selber spielen sollst.“ „Ich?“ „Du bist doch n bekannter Künstler, da könnt ihr euch doch Stars leisten.“ „Wie meinst du das?“, spielte ich kurz den Beleidigten, „entweder ziehen wir das hier durch mit dieser Berühmtheit oder dampfen Carl und mich wieder auf Normalniveau.“ Alex spielte brav mit: „Entschuldige Leo – ach – Ihr seid ja die Stars. Hach Leo, ich bin sowas nicht gewöhnt“ – und trat wieder einmal kräftig aufs Gaspedal. Jedes Mal ruckte es mich im Beifahrersitz nach hinten, mein Kopf knallte gegen die Nackenstütze, was Alex ebenfalls jedes Mal ein zufriedenes Kichern abrang. Ich musste irgendwie zusehen, das Gespräch zu bremsen, die Fahrt aus der Unterhaltung nehmen, weil die Frau bei jedem ausstöhnenden „Hach“ ihren Fuß auf dieses Pedal drückte. Wem nutzte schon ein Leo mit nem platten Hinterkopf? Oder sah beim Aussteigen jeder so aus, den sie irgendwo hinfuhr? „Genau“, schrie ich gegen das Dröhnen des Motors an, „wir sind die Stars!“, war aber gleich wieder leiser: „Das is doch der Beschiss. Biste erstmal groß, traut sich keiner mehr ran an dich. David Hockney pur; als der sein erstes Millionenbild gemalt hat, da konnte er seinen Freunden keine mehr verkaufen. Du bist zu teuer, jammerten die, und was hat er gemacht? Nich blöde, der Hockney, er versendete die Dinger per Fax.“ „Hockey?“ schrie Alex durch den Motorenlärm zurück. „Nee, H-o-c-k-n-e-y. In den 60ern, seine Swimmingpools, hatte Glück, weil, danach kam dieser Manson und dessen Auffassung von Swimmingpools…, da wollte plötzlich keiner mehr Hockney kaufen, ach, das führt zu weit…die 60er…“ Und da sagte Alex ihren zweiten berühmten Satz, neben „Hallo, hier is die Alex!.“ Sie sagte: „Da war ich noch nicht geborn.“ „Was machst du sonst in Berlin?“, fragte sie, als mir entwöhntem Stadtmenschen sogar vorbeiziehende Pferde und Kühe auf Weiden als kleine Wunderwerke der Schöpfung vorkamen.
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