Hans erhielt von der Staatsanwaltschaft die Freigabe seiner Tante. Nun konnte er Henriette in aller Stille beerdigen lassen. Bereits am Freitag hatte er einen Sarg ausgesucht und die Modalitäten für die Beerdigung, im Sinne von Henriette geregelt. Sie hatte öfters über ihren letzten Willen gesprochen, denn schließlich hatte sie, wie sie sagte, ihr Leben gelebt. Gegen Abend rief er Wagner an, der darauf ziemlich genervt reagierte. Wagner: „Ich darf und kann dir nichts sagen.“ Hans: „Was ist los mit dir, macht dir der Obermufti wieder Druck?“ Wagner: „Ich kann jetzt nicht reden und schon gar nicht am Telefon. Treffen wir uns in unserer alten Kneipe, du weißt schon wo.“ Hans: „OK, wie immer um 20:00 Uhr?“ Wagner: „Um 20:00 Uhr. Und komme alleine.“ Wagner legte gerade noch rechtzeitig auf, weil Steiner in sein Büro kam. Wagner setzte Steiner über die neuen Fakten ins Bild. Steiner hörte sich die Fakten an und sagte dann kleinlaut: „Dann hattest du und Kramer doch Recht. Entschuldige mein unmögliches Benehmen. Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Unfälle in Wirklichkeit Morde waren. Ich dachte einfach, es seien Hirngespinste von Kramer, weil er emotional unter dem Verlust seiner Tante litt.“ Wagner: „Wir müssen jetzt, bevor die Presse davon Wind bekommt, alle Fakten zusammentragen. Noch ist nicht bewiesen, dass es die Taten eines Einzelnen war. Du kannst dir aussuchen welchen Fall du bearbeiten möchtest. Entweder den Fall Kimmig, oder Linde.“ Steiner: „Dann ermittle ich im Fall Linde.“ Wagner: „Gut. Hier sind die Bilder die ich von der KTU bekommen habe. Den Rollstuhl habe ich inzwischen in die Asservatenkammer bringen lassen. Nimm Strobel mit und zeig dem Frischling, wie man richtig ermittelt. Binde ihn gedanklich ein, damit er etwas lernt.“ Steiner: „Muss das sein?“ Wagner: „Das muss sein. Denk daran, dass du auch einmal so angefangen hast. Und da warst du auch froh, wie dir andere Kollegen geholfen haben. Strobel hat viel Potenzial. Gib ihm die Akten zu lesen, damit er voll im Bilde ist. Hör dir an was er zu sagen hat, vielleicht hat er neue Ansatzpunkte, die wir noch gar nicht gesehen haben. Aber behalte immer das Ganze im Auge, weil wir nicht ausschließen können, dass alle drei Fälle miteinander verknüpft sind. Und bitte nimmt die Formulierung, ungeklärter Unfall. Wenn erst einmal die Presse von der Sache erfährt, haben wir keine Ruhe mehr.“ Steiner nahm die Akten mit und ging in sein Büro, wo bereits Ulrich Strobel wartete. Steiner sagte ihm nur kurz und knapp: „Hier ist deine Bettlektüre. Alles genau durchlesen, morgen früh geht es los.“ Gegen 20:00 Uhr traf Hans zum vereinbarten Treffpunkt ein. Es war eine kleine Kneipe in Kreuzberg die „Bei Eddy“ hieß. Den ursprünglichen Besitzer Eddy Kasulke gab es schon lange nicht mehr. Jetzt war Maximiliane Junker die Chefin, eine ehemalige Bardame, die vor Jahren aus Hamburg an die Spree wechselte. Man munkelte, dass sie in Hamburg nicht nur hinter dem Tresen stand, sondern sich auch prostituierte. Hans war schon über ein Jahr nicht mehr hier gewesen, aber trotzdem erkannte ihn Maxi sofort. Maxi: „Ich glaub es nicht, Hans Kramer, der Ex Bulle. Was verschlägt dich hierher?“ Hans begrüßte sie mit den Worten: „Ich hatte eben Sehnsucht nach dir.“ Maxi lachte und antwortete: „Du alter Charmeur, du hast auch schon besser gelogen. Wo ist denn deine bessere Hälfte?“ Und mit „bessere Hälfte“ war keine Frau gemeint, sondern Klaus Wagner. Hier trafen sich die beiden früher, wenn sie ungestört sein wollten. Und heute sollte das nicht anders sein. Maxi: „Wie immer?“ Hans: „Wie immer, es hat sich nichts geändert.“ Maxi: „Dann richte ich euch beiden schon einmal das Nebenzimmer, da seid ihr ungestört.“ Maxi hatte nie gefragt, worüber die beiden sprachen, Diskretion war angesagt. Fünf Minuten später kam Klaus Wagner. Nach der Begrüßung, verschwanden die beiden im Nebenzimmer. Wie sie ihre Getränke hatten und alleine waren, fing Hans an zu fragen: „Was ist so geheimnisvoll, dass du nicht am Telefon mit mir reden kannst?“ Wagner: „Was ich dir jetzt zeige und erzähle, bleibt wie immer, unter uns.“ Er öffnete seine Aktenmappe und zog die drei Akten heraus, die er bereits seinen Mitarbeitern im Kommissariat zum Lesen gab. Hans überflog die Dokumente und kam zu dem Schluss: „Dann hatten der Stammtisch, mit seinem Verdacht doch Recht gehabt. Nur muss man jetzt vorsichtig an die Sache herangehen. Fall eins: Henriette, ist ganz klar ein Mord. Fall zwei: Kimmig, mit der Fahrerflucht. Da kann es sich tatsächlich um einen tragischen Unfall handeln. Der Fahrer des Unfallverursachers könnte besoffen gewesen sein, oder keinen Führerschein, oder ein gestohlenes Auto gehabt haben. Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Aber Fakt ist, das auch er aus seiner Wohnung sollte. Und im dritten Fall, bei Erwin Linde, würde ich eindeutig von Mord reden. Warum zum Teufel, sollte Linde seine Bremsen an seinem Rollstuhl manipulieren? Und damit stellt sich die Frage, mit wie vielen Tätern haben wir es zu tun? Einen einzelnen Täter, der alle drei Taten begann, oder waren es zwei? Es könnten aber auch drei sein, für jede Tat einen. Im Fall meiner Tante würde ich auf jeden Fall an die Öffentlichkeit gehen. Meine Nachforschungen haben nicht die kleinste Spur erbracht, wenn man einmal von der DNA an der Weinflasche und den ausgewechselten Verdunstungsröhrchen absieht. Und wie ich hier lese, hat jemand wahrscheinlich Zugriff auf die alten Röhrchen gehabt, um sich so, als Heizungsmonteur getarnt, Zugang in Henriettes Wohnung zu verschaffen.“ Wagner: „Wir ermitteln bereits in der Richtung.“ Hans: „In meinen Gesprächen mit den Anwohnern, sind viele der Meinung, dass dieser Henning seine Finger mit im Spiel hat. Er muss ja nicht selbst die Drecksarbeit machen, sondern kann einen dafür engagiert haben. Henning spielt für mich persönlich eine zentrale Rolle. Um dir das zu verdeutlichen, habe ich dir ein Bild mitgebracht, wie in Zukunft die Görlitzer Strasse aussieht, bzw. aussehen soll.“ Hans zog sein Handy heraus und lud das Bild aufs Display und sendete es ihm. Als Wagner es sah, meinte er: „Dann muss er ja alle Wohnungen leer bekommen, um das wirklich umzusetzen. Wie will er das bezahlen? Mir gegenüber sprach er nur von Sanierungsarbeiten. Die Wohnungen sollten neue Bäder, Heizungen und Küchen bekommen.“ Hans: „Deshalb solltet ihr euch seine Finanzen ansehen. Wie viel Bares hat er, mit welchen Investoren ist er in Kontakt. Hat er Geld im Ausland, welche Handwerker arbeiten für ihn und woher kommen sie. Wenn er sauber ist, kannst du ihn von deiner Liste streichen. Am Mittwoch versuche ich mit seinem Verwalter, diesem Herrn Ralf Gebhard ins Gespräch zu kommen. Mal sehen, ob ich von ihm etwas erfahre.“ Wagner: „Gebe mir bitte Bescheid, wenn du was Wichtiges heraus bekommst. Hoffentlich kommen da nicht noch mehr Verbrechen auf uns zu. Nicht auszudenken, wenn noch jemand zu Tode kommt.“ Hans: „Sobald ihr alle befragt habt, müsst ihr an die Öffentlichkeit gehen. Oder als Alternative, alle Anwohner von Hennings Wohnungen eindringlich davor warnen, Fremde in ihre Wohnungen zu lassen. Alles deutet daraufhin, dass jemand versucht, unbequeme oder arglose Mieter loszuwerden. Ich bin gespannt, wann jemand bei mir aufkreuzt, um irgendetwas zu reparieren oder zu sanieren.“ Wagner: „Das hat Henning schon angekündigt, als ich bei ihm war. Er will in den nächsten zwei Wochen damit anfangen, im Haus 36 zu sanieren. Ich habe ihn fürsorglich vor dir gewarnt. Der Arme wusste scheinbar überhaupt nicht, dass du bei deiner Tante wohnst.“ Hans: „Danke für die Info. Ich freue mich schon darauf, wenn er oder seine Truppe zu mir kommt. Ich werde die Hausgemeinschaft entsprechend darauf vorbereiten. Wenn er von mir nichts gewusst hat, dann weiß er auch nicht, dass ich ein ehemaliger Bulle bin.“ Wagner: „Aber übertreibe es nicht. Nicht dass du ihn verprügelst und er dich belangen kann.“ Hans: „Alles im gesetzlichen Rahmen.“ Wagner: „Wann ist denn die Beerdigung von deiner Tante?“ Hans: „Am Mittwochmorgen um 10:00 Uhr, auf dem alten Friedhof. Henriette hat schon vor Jahren das Grab, neben ihrem verstorbenen Mann Johann gekauft. Es werden viele Nachbarn und Freunde kommen, da bin ich mir sicher.“
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