Der kleine Ji-Min hockte in der Ecke seines Zimmers. Auch hier beleuchtete das schwache Licht den spärlich eingerichteten Raum. Gierig wie ein Raubtier zerrte er an der Stange aus gepresstem Krebsfleisch, die sich in seinem Speichel langsam auflöste.
„Hast du wieder Hunger gehabt?“, fragte Hyuna liebevoll.
Er nickte und schlang weiter alles hinunter.
„Was hältst du von roten Tapeten?“, fragte er schmatzend.
Mit seinen schmalen Augen betrachtete er den Raum. Die dunkelgrünen Tapeten waren stellenweise runtergerissen worden und gaben vulgär nackten Zement preis. Hyuna hockte sich auf ihre Schlafmatte, die sie mit ihrem Bruder teilte. In kalten Nächten wärmte sie sein kleiner Körper, in trostlosen Zeiten seine Liebe. Sie mochte es an seinen verschwitzten Haaren zu riechen, wenn sie hinter ihm lag. Denn der Schweiß eines Kindes roch anders. Er stank nicht, sondern strömte Unschuld aus.
„Rote Tapeten“, wiederholte sie sich umblickend.
„Ja, so rot wie Frau Lees Lippenstift.“
Sie fuhr durch seine Haare und hielt sanft ein Büschel fest.
„Eine andere Tapete bedeutet nicht ein anderes Leben, kleiner Bruder.“
Er senkte enttäuscht den Kopf. Sie hasste sich selbst dafür, ihm seine Illusionen zu rauben. Mit einem Hammer seine Träume zu zerschmettern. Wie eine Glasur überzog Scham ihren Körper und sie legte sich mit ihm in den Schlafsack. Nach der harten Wahrheit wollte sie ihm wenigstens ein Quäntchen Trost spenden. Ji-Min schmiegte sich enger an ihren Körper. Außerhalb des Zimmers hörte sie Jun-Su, der wach geworden war und sich noch halb benommen einen Weg durch die Dunkelheit bahnte, um zu dem brummenden Kühlschrank zu gelangen, der den süßen Nektar des Alkohols in sich barg. Während sie den zitternden Körper ihres Bruders neben sich spürte, horchte sie genau hin. Sie fürchteten sich beide vor diesem Ungetüm, das sich nun zu ihrem Glück wieder hingelegt hatte. Ständig in Angst zu leben bedeutete für sie das wahre Grauen des Lebens. Die Launen ihres Vaters waren zuweilen unberechenbar wie die Wellen des Meeres. Manchmal peitschten sie hoch und drohten einen zu zerschmettern. Ein anderes Mal schwappten sie sanft ans Ufer, um lautlos ans Gestein zu branden. In diesem Meer segelten sie und ihr Bruder in einer kleinen Nussschale, die von Tag zu Tag mehr Risse aufwies. Land war noch nicht in Sicht, aber bald. Das schwor sie sich. Bald würden sie gemeinsam diesen wilden Sturm verlassen und ihr bestimmtes Leben finden.
Sein Zeigefinger ruhte still auf der Maus, während er mit einer gewissen Enttäuschung auf den Bildschirm starrte. Seit nun mehr als zwei Wochen war Soo-Jung nicht mehr online gewesen. Somit war er gezwungen, allein durch die virtuellen Welten zu reisen. Wilde Schlachten hatte er geschlagen und war über fantastische Mondlandschaften gereist. Doch die anregenden Gespräche mit seinem Freund fehlten ihm sehr. In gewisser Weise fühlte er eine bleierne Einsamkeit, obwohl er von vielen Menschen umgeben war. Sein Leben hatte sich kein Stück bewegt, dabei hasste er Stetigkeit mehr als alles andere. Sein Vater rügte ihn täglich, weil er keinen Schulabschluss hatte, seine Mutter verhätschelte ihn und nahm ihn während der wöchentlichen Treffen mit Frau No und Frau Oh, die einem Verhör gleichkamen, in Schutz.
„Komm lass die Gäste nicht warten.“ Hee-Chul reckte seinen Kopf durch den Türspalt. Die strenge Haltung wies auf seine militärische Ausbildung in seiner Jugendzeit hin. Haekwon las gern in den Körpern anderer Menschen. Narben, Körperhaltung und Gesichtsausdrücke waren Spuren der Vergangenheit, die viel über eine Person preisgaben.
Das vom Bildschirm beleuchtete Gesicht blickte auf und nickte. Im Flur hörte er einen lauten Seufzer. Hee-Chul war über sein Verhalten wieder mal mehr als enttäuscht. Seltsamerweise sollte er an diesem Kaffeekranz teilnehmen, da Frau No ihn, Kim Haekwon dem Träger des heiligen Schwertes, etwas fragen wollte. Genervt klappte er sein Notebook zu und schlurfte in die Küche wie ein Sträfling, der seinen letzten Gang zum elektrischen Stuhl beschritt. In den Dampfschwaden des frisch aufgebrühten Kaffees gehüllt saßen sie da in ihren Coco Chanel und Gucci Kostümen, drei verkleidete, reiche Clowns. Alberne Gestalten, für die Geld zum guten Charakter zählte. Haekwon nahm nur am Rand der Manege Platz. Sunia hastete zwischen den Damen hin und her, wobei Frau No am häufigsten die Dienste der pummeligen Haushälterin in Anspruch nahm. Während Sunia der grantigen Frau No ein Stück Kuchen servierte, zwinkerte sie Haekwon freundschaftlich zu.
„Du solltest wirklich ein neues Mädchen finden. Gutes Personal gibt es wie Sand am Meer“, meinte Frau No zu seiner Mutter vornehm schmatzend. Im Hintergrund stand Sunia mit versteinerter Miene, um weitere Wünsche der Gäste zu erfüllen. Ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen nahm sie die giftigen Worte, die aus dem Pferdegebiss des unangenehmen Gastes drangen, standhaft in sich auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie so eine Demütigung ertragen musste. Haekwon hätte Frau No am liebsten eine reingehauen. Die einzige Frau auf Erden, bei der er so etwas getan hätte. So war doch Sunia die gute Seele des Hauses. Die Person, mit der er sich noch seelisch verbunden fühlte und offen über seine Sorgen sprechen konnte, ein Kummerkasten in seinen Diensten, ohne hierarischen Anspruch von seiner Seite. Allerdings hörte er auch mit Entzückung der Haushälterin zu, wenn sie über ihren Alltag berichtete. Zuweilen hatte das einfache Leben etwas Faszinierendes. Über die Jahre hatte er sich zu weit entfernt von seinen Eltern. Wenn man so wollte, waren auseinandergedriftet und lebten in Parallelwelten, obwohl sie am gleichen Ort wohnten.
Das schweigende Gegenstück von Frau No, Frau Oh, saß nur auf dem mit blauer Seide bespannten Eichenstuhl und blickte verlegen auf die gläserne Tischplatte. Seitdem sie von ihrem Mann, ein erfolgreicher Rechtsanwalt aus Taegu, mit seiner Sekretärin betrogen wurde, lebte sie von stattlichen Alimenten. Was ihr an Selbstbewusstsein mangelte, schien Frau No für sich beansprucht zu haben. Wie einen Pudel schleifte die Frau mit dem Pferdegebiss ihre vermeintliche Freundin ein ganzes Leben hinter sich her. Mitleid empfand Haekwon mit Frau Oh nicht. Vielmehr ein Gefühl von Verachtung, wenn er in das fahle Gesicht von Frau Oh blickte. So bleich, so charakterlos, so schwach, dass alles Geld der Welt diese Makel nicht beheben konnte. Gelegentlich war ihre Scheidung der Mittelpunkt des Tratsches und Frau No konnte sich einige bissige Bemerkungen nicht verkneifen. Wobei sich jedes Mal ein listiger Ausdruck auf ihrem von Mascara entstellten Gesicht einnistete.
„Ach ja“, wandte sich endlich Frau No ihm zu. „Mein Junge, ich wollte dich gerne etwas fragen. Bekanntlich will mein Sohn bald mit seinem Medizinstudium anfangen. Und da du deine Schule hoffentlich bald beenden wirst, wirst du doch bestimmt auch mit einem Studium beginnen? Ich bete inständig dafür, dass du die Schule dieses Jahr beenden wirst.“
Nun blickte Yeon-Woo ebenfalls verlegen auf die Tischplatte. Reflexartig schaute er zu seinem Vater, was ihn selbst ein wenig überraschte. Hee-Chul hatte sich auffällig zurückgehalten, aber nun nickte er seinem Sohn ernst zu. Als Angeklagter musste sich Haekwon erst die Zustimmung von seinem blutsverwandten Advokaten abholen, bevor er eine Antwort wagte.
„Vielleicht belege ich nach der Schule einen Kurs in Soziologie.“
An Hee-Chuls angespannter Körperhaltung sah Haekwon, wie der König der Schreibwarenartikel innerlich die Hände über den Kopf schlug und sich dabei am Kronenzacken schnitt.
„Allerliebst“, meinte Frau No und zog ihr künstlichstes Lächeln aus der Schublade. Sie atmete einmal tief durch, als würden die nächsten Worte sie eine Unmenge an Kraft kosten. „Jedenfalls könntest du dir vorstellen, dir eine Wohnung mit ihm zu teilen? An den Kosten liegt es nicht. Wir haben Gott weiß so viel Geld für sein Studium zur Verfügung, um ihm den nobelsten Loft zu bezahlen.“ Nun schallte ein affektiertes Lächeln wie ein eisiger Windzug durch die Küche. „Vielmehr, fuhr sie fort, „beunruhigt es mich, wenn er so allein leben muss.“
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