Ein weiteres Mal war die Stimme aus dem Megaphon zu hören: “Bitte geben Sie Ihre Waffen ab. Wenn Sie uns unterstützen, wird Ihnen nichts geschehen.” Sie hatte keine Waffen, die sie hätte abgeben können. Lediglich ihr Schwager Robert hatte noch das alte Gewehr des Schwiegervaters, das im Schlafzimmer neben dem Schrank an der Wand lehnte. Er schien im Haus geblieben zu sein, stand wahrscheinlich am Fenster und überlegte genauso wie sie, wie er sich am besten verhalten sollte.
Die Franzosen verhängten eine Ausgangssperre bis zum nächsten Morgen. Weil die Mannschaftsdienstgrade nun anfingen, einige junge Frauen zu belästigen, hatte sie es sehr eilig, mit den Kindern nach Hause zu kommen. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, warum sie ins Dorf gekommen war. Sie hatte im Backhaus Brot gebacken und wagte es tatsächlich noch, vor dem Nachhause gehen die beiden mittlerweile etwas angebrannten Laibe aus dem Ofen zu holen. Daraufhin ging sie mit den Kindern die Hauptstraße entlang und, so schnell und unauffällig sie konnte, zurück nach Hause.
Sie hatte die Brotlaibe in ein Geschirrtuch eingewickelt und unter den Arm geklemmt. Karla hielt sie mit der rechten Hand, Kurt lief ruhig neben ihnen her. Sie kam am Haus der Schwiegereltern vorbei und schaute, ob sie hinter den Fensterscheiben irgendetwas erkennen konnte. Von Robert, ihrem Schwager, war jedoch nichts zu sehen. Anscheinend hatte er mitbekommen, dass nun jeder im Haus bleiben sollte.
Das alte Fachwerkhaus stand da wie immer, als ob ihm noch keiner gesagt hätte, dass nun alles anders werden würde. Dass die Welt oder das, was man hier im Dorf für die Welt hielt, nicht mehr länger so bleiben würde wie bisher. Die Geranien an den Fenstern waren kurz davor zu blühen und schienen nicht bemerkt zu haben, dass nun alles, woran die Menschen hier geglaubt hatten, schlagartig und unwiderruflich in sich zusammenbrach.
Selbst auf dem Heimweg sprachen Kurt und Karla kein Wort. Dennoch versuchte sie, die beiden und damit auch sich selbst so gut es ging zu beruhigen. Dass sie sofort zu Hause seien und es gleich etwas zu essen gebe. Dass bestimmt alles wieder gut werde und sie sich keine Sorgen machen müssten. Plötzlich meinte sie zu spüren, dass ihre Kinder darauf vertrauten, bei ihr in Sicherheit zu sein. Doch anstatt sich darüber zu freuen, trieben der Gedanke daran und das Wissen um die eigene Hilflosigkeit ihr die Tränen in die Augen.
Kapitel 2
Sie war erst 1936 in den Ort gekommen, als sie mit damals 21 Jahren Richard geheiratet hatte. Ursprünglich stammte sie von einem Bauernhof, der nahe an der Grenze zu Bayern lag. Sie sah den Hof ihrer Eltern und die Scheune vor sich und wusste sogar noch die Namen der vier Kühe und der beiden Pferde, die zuhause im Stall standen.
Vor allem die Pferde liebte sie über alles, obwohl es keine Reitpferde waren, die sie als Kind hin und wieder auf Bildern gesehen hatte. Es waren Kaltblüter, die in erster Linie dazu da waren, schwere Arbeit zu verrichten und einen Wagen oder den Pflug zu ziehen. Die beiden Pferde hießen Elsa und Emma und sie verbrachte viel Zeit damit, sie nicht nur zu striegeln und die Mähne zu kämmen, sondern ihnen auch Futter zu geben und den Stall auszumisten.
Als kleines Kind träumte sie immer davon, auf einem der beiden Tiere über die Felder zu galoppieren. Hinter dem Wald ging die Sonne unter und das warme, weiche Licht ließ die Tannen noch dunkler als sonst erscheinen. Ihre langen Haare wehten im Wind und das Pferd bewegte sich mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die man einem Kaltblüter niemals zugetraut hätte.
Ihr Vater schien kein Verständnis für die Vorliebe seiner Tochter zu haben. Er wusste es zu schätzen, dass sie sich intensiv um die beiden Pferde kümmerte und er das Ausmisten des Stalles nicht auch noch selbst erledigen musste. Die beiden Pferde waren aber zum Arbeiten da und seine Tochter konnte froh sein, wenn sie auf dem Weg zum Feld ab und zu auf dem Rücken eines der Pferde sitzen durfte.
Umso mehr freute sie sich, als der Vater an ihrem achten Geburtstag Elsa und Emma aus dem Stall holte und sie zu zweit das Tal hinaus ritten. Überglücklich kam sie zurück und noch im Haus umarmte sie mehrfach ihren Vater und auch ihre Mutter. Wahrscheinlich steckte sie dahinter und hatte ihrem Mann solange zugeredet, bis er die Sättel und das Zaumzeug aus der Scheune holte und seiner Tochter ihren bis dahin größten Wunsch erfüllte.
Die Mutter war früh gestorben und von einem Tag auf den anderen hatte sie als älteste Tochter die kleineren Geschwister zu versorgen. Deshalb wusste sie sehr früh Verantwortung zu übernehmen, den Haushalt zu führen und die Tiere zu füttern. Neben den Pferden und Kühen waren dies sechs Schweine, einige Hühner und ein Hahn, der sie und sie ihn nie richtig leiden konnte.
Als sie fünf Jahre alt war, war ihr der Hahn einmal auf den Kopf gesprungen. Er versuchte, sich an ihren Haaren festzuhalten, und die scharfen Krallen verursachten einen Schmerz, an den sich heute noch erinnern konnte. Sie fing an zu schreien und herum zu springen, doch ihre Eltern waren zu weit weg, um ihr schnell zu Hilfe kommen zu können. Ihr Vater spaltete Holz und die Mutter war wohl in der Küche beschäftigt.
Der Hahn war durch ihr Schreien so verunsichert, dass er zu allem Übel auch noch begann, auf sie einzupicken. Sie blutete an der Stirn und auch heute noch konnte man oberhalb ihrer linken Augenbraue eine kleine Narbe erkennen. Richard hatte sie aber trotzdem geheiratet und sie sogar ab und zu mit der Geschichte aufgezogen.
Sie hatte nach dem Tod ihrer Mutter erstaunlich schnell in ihre neue Rolle hineingefunden. Wohl auch deshalb, weil sie ein so gutes Verhältnis hatten und sie ihr gerne bei der Arbeit half. So lernte sie, sozusagen nebenbei, wie man Brot backte, wie man die Wäsche machte und am Samstag die Kinder badete. Diese Prozedur hatte sie auch später mit Kurt und Karla so beibehalten.
Mit Richards Mutter hatte sie regelmäßig Streit, weil sie Kurt samstags um fünf Uhr zum Baden zuhause haben wollte. Mittlerweile verbrachte er vor allem samstags sehr viel Zeit auf dem Hof der Schwiegereltern und konnte erstaunlich gut mit den Ochsen umgehen. Er war noch nicht kräftig genug, um auf dem Feld den Pflug zu führen, dennoch war sein Ehrgeiz sehr groß, Aufgaben zu übernehmen, die andere erst sehr viel später tun konnten.
Ihre Schwiegermutter war der Ansicht, dass Kinder nicht jeden Samstag baden müssten. Sie wusste nicht, ob sie über diese Ansicht lachen oder sich ärgern sollte. Immer wieder war sie verärgert, weil Kurt zu spät kam und das Wasser bereits wieder kalt war. Mit ihm zu schimpfen fiel ihr schwer, weil sie wusste, dass es nicht an Kurt lag, sondern die Schwiegermutter dahinter steckte.
Sie hatte es sich angewöhnt, am späten Nachmittag das Wasser heiß zu machen und die Kinder unten in der Waschküche zu baden. Dies musste einigermaßen schnell gehen, damit alle mit dem Baden fertig waren, bevor das Wasser wieder zu kalt war. Zuletzt stieg sie selbst in die verzinkte Wanne und in das oft schon viel zu kalte Wasser, nachdem sie Kurt und Karla abgetrocknet und nach oben in die warme Stube geschickt hatte.
Mit ihren Geschwistern zuhause war es nicht anders und ein Kind nach dem anderen musste in die Wanne. Schon bei ihrer Mutter wurden die Kinder dem Alter nach gebadet und vor allem die kleineren hatten keine Lust, sich waschen zu lassen. Sie hatte sich oft darüber geärgert, weil das Wasser mit der Zeit immer trüber wurde und sie sich davor ekelte, im Dreck der kleineren Geschwister zu sitzen und sich damit waschen zu müssen.
Deshalb freute sie sich insgeheim darüber, wenn sie an die Reihe kam, das Wasser aber bereits zu kalt und zu dreckig war. Ihre Mutter musste dann noch einmal Wasser heiß machen, und sie und ihr älterer Bruder Albert sowie Vater und Mutter konnten erst baden, nachdem sie zu Abend gegessen hatten und die Kleinen im Bett waren.
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