Bei der Scheidung wird entsprechend also nur das Ehesystem, nicht aber das Eltern-Kind-System gelöst. Man spricht fortan von der Fortsetzungsfamilie. Dabei handelt es sich um eine Vielzahl von möglichen Familienkonstellationen. Die prominenteste Vertreterin ist die Patchworkfamilie. Bei diesen Familien ist die Situation meist noch relativ einfach zu erfassen. Väter und Mütter aus vorangegangenen Beziehungen bekommen in einer neuen Ehe weitere, gemeinsame Kinder. Die sicherlich älteste Variante ist die Stieffamilie. Zwar wird der Begriff „Stieffamilie“ teilweise auch als Synonym für Fortsetzungsfamilie verwendet, primär wird damit jedoch entweder eine Familie bezeichnet, bei der nach dem Tod eines Partners eine Wiederverheiratung erfolgt oder wenn zu den eigenen Kindern bzw. anstatt eigener Kinder fremde Kinder aufgenommen werden. Neben diesen noch relativ überschaubaren gibt es auch Familienkonstellationen, in denen die Mitglieder nur Ausschnitte einer gemeinsamen Familie teilen. Im Extremfall lebt jede beteiligte Person eine andere Familie. Mittelpunkt, Umfang und Ränder sind dann für jedes Familienmitglied unterschiedlich definiert. Dieser Hintergrund verdeutlicht besonders anschaulich, was bereits der französische Soziologe Emile Durkheim (1858 bis 1917) sinngemäß feststellte: Verwandtschaft begünstigt zwar die Zusammengehörigkeit, diese muss jedoch durch ein aktives Näherrücken erst entstehen. Bei den Formen der Fortsetzungsfamilien muss Familie erst recht durch jeden aktiv hergestellt und organisiert werden. Sie kann dabei durchaus eine Aufwertung erfahren. Die entsprechenden Beziehungen sind frei gewählt und damit auch bewusst gewollt. Das ist mehr als man in mancher Normalfamilie vorfindet. Die zugrunde liegende Aufgabe hört sich zwar anstrengend an, scheint aber ein sehr fruchtbarer Prozess zu sein. Die soziale Eltern- und Verwandtschaft gewinnt gegenüber der biologischen enorm an Bedeutung. Es wird davon ausgegangen, dass ungefähr jedes vierte minderjährige Kind mit den sozialen Eltern nur teilweise oder gar nicht verwandt ist. Die meisten Kinder erleben im Zuge dieser aktiven Familienherstellung jedoch nicht den Verlust eines Elternteils, sondern werden zu „elternreichen“ Kindern. Hierfür kommt es vor allem darauf an, dass die Fortsetzungsfamilien Grenzen finden, die den neuen sozialen Elternteil einschließen und den nunmehr abwesenden biologischen Elternteil nicht ausschließen. Nach Rüdiger Peuckert ist ein kindorientierter Umgang zwischen den Expartnern gar nicht so selten. Selbst wenn die biologischen Eltern ihren Konflikt nach der Scheidung nicht lösen können, organisieren manche eine Art „parallele Elternschaft“, die den Nachwuchs vom Kampfgeschehen fernhält. Was die soziale Elternschaft anbelangt, so dauert es in der Regel 5 Jahre, bis zwischen den Kindern und dem neuen Elternteil eine tragfähige Beziehung entstanden ist. Insgesamt bewältigen die meisten Trennungskinder ihre Situation mittel- bis langfristig jedoch problemlos.
Es gibt bei genauer Betrachtung also weder einen Grund, die unterschiedlichen Formen der Fortsetzungsfamilien und deren Mitglieder herabwürdigend zu beäugen, noch deren Erziehungsqualität in Frage zu stellen. Diese Familienformen bieten augenscheinlich vielmehr tatsächlich ein enormes Erfahrungspotential für das Leben in der Weltgesellschaft. Die hierfür entscheidende „Weltbewusstheit“ setzt, in Anlehnung an den Soziologe Rudolf Stichweh, keinesfalls teure Exkursionen in die entlegensten Winkel der Erde voraus. Zum einen ändert die Anzahl bereister Orte nichts an der Grundhaltung, ob andere Lebensauffassungen bestenfalls toleriert oder aber tatsächlich mit Respekt akzeptiert werden. Zum anderen konfrontiert der Weltvergesellschaftungsprozess jeden Einzelnen auch zu Hause damit, dass seine Lebensweise weder die einzige noch die vortrefflichste Möglichkeit ist. Ein Sachverhalt, der den Mitgliedern einer „Nicht-Normal-Familie“ sicherlich mehr als vertraut erscheint. Die entsprechenden Erfahrungen und die Bewältigungsformen, die Kinder im Rahmen einer gelungenen Fortsetzungsfamilie erwerben können, sind für ein Leben mit der Vielfalt der Weltgesellschaft jedenfalls alles andere als hinderlich.
Die Umgangsformen innerhalb der Familie und damit auch das Eltern-Kind-Verhältnis haben sich in den letzten Jahren allgemein gewandelt. Vor allem die Machtbalance zwischen Eltern und Kind ist durch eine Emanzipation der Kinder geprägt. Der Befehlshaushalt, mit seinem autoritären, strengen und strafenden Erziehungsstil, ist überwiegend durch den Verhandlungshaushalt abgelöst worden. Problematischerweise ist unter diesen Umständen allerdings selbst für erfahrene Beobachter nicht immer klar zu unterscheiden, ob sie eine Erziehung hin zur Selbstständigkeit oder eine resignierte Gleichgültigkeit vor Augen haben. Von einer Erziehungsverweigerung dürften die ahnungslosen Nörgler jedoch spätestens dann nicht mehr sprechen, wenn wissenschaftlich belegt ist, dass Kleinkinder, noch bevor sie sich motorisch aufrichten, Wortgefechte durchstehen können. Nicht anders wird es sich mit der törichten Forderung verhalten, dass „verhandlungssichere“ Fremdsprachenkenntnisse erst dann erworben werden sollten, wenn der Zögling gelernt hat, was Verhandeln und Entscheiden eigentlich bedeuten. Derart sozialromantische Sichtweisen berücksichtigen in keinster Weise, dass viele Kinder die Zeit wieder aufzuholen haben, die bis zu ihrer Geburt bereits vergangen ist.
Die längeren Ausbildungszeiten der Eltern verzögern die Familiengründung erheblich. Während die Entscheidungsphase vor einer Generation mit 10 Jahren angegeben wird, sei heute die „Rushhour“ des Lebens auf 5 Jahre geschrumpft. Diese Entwicklung gilt allerdings nur dann, wenn das sogenannte sequenzielle Prinzip nach der Ausbildung noch die berufliche Etablierung verlangt. Väter und Mütter, die bei der Familiengründung entsprechend auf ein gefestigtes ökonomisches Fundament bauen, sehen im Nachwuchs nicht zuletzt eine Bedrohung ihres materiellen und beruflichen Status. Wenn die Voraussetzungen allerdings erst einmal als gegeben eingestuft werden, bleibt es unter diesem Verständnis meist nicht bei einem Kind. Verbindet sich Arbeit und Familie nach dem parallelen Modell, richtet sich der Kinderwunsch nicht nach wirtschaftlichen Sicherheiten. Diese Unbeschwertheit tendiert allerdings auch stark zur Ein-Kind-Familie.
Dabei weiß doch jeder, dass Einzelkinder verzogen sind. Entweder, weil man mindestens eines dieser „Gören“ kennt oder weil man selbst eines ist. Umso bedrückender erscheint die Tatsache, dass die Kinder ihre ersten Lebensjahre zunehmend nur in enger Beziehung zu Erwachsenen verbringen. Die wahrgenommenen Kompensationsmöglichkeiten sind allerdings vielfältig. So dient die Einbindung in zweckrationale Gruppen als Geschwisterersatz. Die sozialen, sportlichen, künstlerischen und fremdsprachlichen Schwerpunkte bieten dem Kind unterschiedlichste Rollenkontexte, in denen es sich lernend zu bewähren hat. Freizeit ist Lernzeit. Die entsprechend zunehmende Pädagogisierung, Institutionalisierung und Verinselung der Kindheit ist allerdings schon wieder Anlass zur Kritik. Die Rede ist dann von der „Termin-“ und „Vereinskindheit“. Durch eine derart umfängliche Betreuung verlören die Kinder jegliche Fähigkeit zur Selbstbeschäftigung und zu spontanen Aktivitäten. Wesentlich flexibler sind dann nur noch die Eltern, deren Beziehung zum Kind zu einer sogenannten „Schulbeziehung“ mutiert ist. Zuneigung ist nichts Naturgegebenes, sondern will verdient sein. Welcher Maßstab ist hierfür also geeigneter als die Schulnoten?
Wie beruhigend ist an dieser Stelle wieder einmal die statistische Wirklichkeit. Die Kinderzahl pro Familie hat sich insgesamt zwar verringert, die Mehrzahl der Kinder wächst jedoch draußenspielend mit Geschwistern auf. Der unter Umständen daraus resultierende psychische Schaden ist zumindest gesellschaftlich salonfähig.
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