Das eine Mal erhielt Anni von Onkel Franz und Tante Amanda eine Puppenküche mit Küchenschränken und einem Tisch, von einem Tischler angefertigt. Die Schubladen konnte man herausziehen. Auch einen Herd gab es. In den kleinen kupfernen Tiegeln, Töpfen und Pfannen konnte man kochen und braten, denn das Herdfeuer wurde mit Brennspiritus-Tabletten erzeugt. Anna hatte so etwas Hübsches und Niedliches noch nie gesehen. Sogar die Bauerntöchter hatten keine schöneren Puppenstuben. Zu allem Überfluss gab es noch das schönste Porzellangeschirr für sechs Personen, Essgeschirr und Kaffeegeschirr, mit blauem Rand und Blumenmuster, Vergissmeinnicht. Anna war hingerissen und spielte zur Freude von Onkel und Tante stundenlang damit, kochte Kakao und servierte es der Familie und ihren Puppen. Peterle bekam ein winziges Schüsselchen mit Milch hingestellt.
Bei einem anderen Besuch erhielt Anni ein nicht weniger schönes Puppenbett. Die Matratzen waren mit grüner Seide bezogen und mit goldenen Knöpfen versehen, die vier Bettpfosten waren handgedrechselt und schlossen mit goldenen Kugeln ab, die Bettwäsche war mit roten Rosen bedruckt. Hübsche, wie Perlmutt schimmernde Knöpfe verschlossen die Bettbezüge. Das Eindrucksvollste war für sie der Himmel aus zartem weißen Tüll, durchwirkt mit goldenen Sternen.
So etwas Wundervolles hatte Anna noch nie gesehen, und das sollte jetzt ihr gehören? Das konnte sie der Bauerntochter von gegenüber zeigen, da würde die staunen. Sie betastete die goldenen Kugeln mit ihrem polierten Glanz und strich vorsichtig über die seidigen Matratzen. Dann kam Bewegung in sie, sie sauste los und schaffte ihre beiden Puppen heran. Erst einmal mussten die umgekleidet, gewaschen und gekämmt werden. Endlich war es soweit und sie legte sie zu Bett. Stolz und gerührt standen Mutter, Puppenmutter, Onkel und Tante um das Bett herum samt dem glücklichen Kind. Dann mussten die Puppen wieder Platz machen, für Peterles Junge. So fein hatten die kleinen Katzen noch nie geschlafen! Das Hotel Adlon war reineweg gar nichts dagegen, meinten die Eltern.
Weil Onkel Franz und Tante Amanda kluge Menschen waren, die es gut mit Anni meinten und sich Gedanken darüber machten, wie man sie fördern könnte, bezahlten sie Anna einen Schwimmkurs. Das Schwimmbad war in einem Steinbruch außerhalb des Dorfes gelegen. Anna hing an der Angel des Bademeisters und lernte schnell Schwimmen. Da wusste sie noch nicht, dass sie mal eine Seemannsfrau werden würde.
Bald gehörte Anna zu den eifrigsten und begabtesten Schwimmerinnen. Sie stürzte sich verwegen vom Fünf-Meter-Brett und tauchte nach schweren Gegenständen, die der Bademeister für sie hineinwarf. War die Haut nass, wurden die sich weiß absetzenden Schuppen durchsichtig, man sah sie nicht mehr. Anna fühlte sich frei und stark. Ängstliche Kinder reizten sie; schön war es, sie, am Rand sitzend, unvermutet von hinten zu schubsen, so dass sie ins Wasser klatschten. Manches Mal ermahnte sie der Bademeister. Wichtiger war es ihm, sie als vielversprechendes Talent für den Schwimmverein zu gewinnen. Mit dreizehn Jahren trat sie wieder aus. Zu oft fühlte sie die Blicke der anderen auf sich lasten, zu Recht oder zu Unrecht; sie nahm an, das würde wegen ihrer schuppigen Haut geschehen, für die sie sich genierte. Ihren Eltern sagte sie, sie habe keine Lust mehr. Mit ihrem kleinen Bruder ging sie aber noch zum Schwimmbad am Ziegelei-Teich, zum eigenen Vergnügen und weil sie dem kleinen Richard das Schwimmen beibringen wollte. Manchmal, wenn der Bademeister nicht zu sehen war, lockten sie auch die Schäferhündin Lotte ins Wasser, die ihnen am Ufer zuschaute und sehnsuchtsvolle und besorgte Laute von sich gab.
Der Grind
Verschiedene Male schon hatte der Lehrer Anna ermahnt, sich die Haare zu waschen. Ihm waren die Schuppen aufgefallen, die er durch die dicken Haare erblicken konnte. Er hielt sie für das Ergebnis von Unsauberkeit oder für die Nissen von Läusen. Als all seine Ermahnungen nichts fruchteten, holte er sie eines Tages von der letzten Bank nach vorne und sprach: "Bei Anna könnt ihr sehen, was passiert, wenn man sich nicht wäscht. Anna, schäm dich!" Die anderen Kinder guckten betroffen oder fingen an zu kichern, aus Verlegenheit oder aus Schadenfreude. Anna stand gequält lächelnd vor der Klasse, endlos, so schien es ihr. "Das sieht mir doch eher nach Läusen aus. Pack deine Sachen und gehe nach Hause. Bestelle deiner Mutter einen schönen Gruß. Du darfst erst wieder zur Schule, wenn deine Läuse weg sind." Schnell lief Anna zur Bank, nahm hastig ihren Tornister vom Haken und riss die Klassentür auf. Läuse-Anni, hörte sie eine hämische Kinderstimme. Das könnte Ilse gewesen sein, notierte Anni für sich. Sie rannte, überlegte, ob sie sich bei Tante Hermine vorher Trost verschaffen sollte. "Modder, Modder, ick bün's“, rief sie am Sockel der Treppe. Aber nichts rührte sich. Anni stürmte nach oben und riss die Klinke herunter. Es war abgeschlossen, niemand zu Hause. Schluchzend rannte Anni nach Hause, und ihre Mutter war da. Als Anni ihre Zurschaustellung als Läuse-Anni hervorgestoßen hatte, während ihr Gesicht sich vor Schmerz und Scham verzerrte, warf ihre Mutter sich entschlossen ihr Umschlagtuch über die Schultern. Du kommst mit, entschied sie, und stürmte voraus. Es war Pause, als sie bei der Schule ankamen. Eine Zigarre rauchend, spazierte der Lehrer auf dem Schulhof, um die Aufsicht zu führen, oder weil es so schönes Wetter war. Die Blicke vieler folgten ihren energischen Schritten. Unterwegs schon hatten sie andere Frauen angesprochen, und sie hatte heftig schnaubend berichtet. In einiger Entfernung verfolgten die Frauen die Beschimpfung. "Was bilden Sie sich ein? Während unsere Männer an der Front sind und für das Vaterland die Knochen hinhalten, lassen Sie den Herrgott einen guten Mann sein und erniedrigen unsere Kinder. Gucken Sie sich mal selber an. Finden Sie sich etwa sauber? Ihre Finger sind ja ganz gelb vom Rauchen. Damit wagen Sie auf meine Tochter zu zeigen? Meine Tochter hat eine angeborene Hautkrankheit, und Sie beschämen sie vor der ganzen Klasse. Wissen Sie, was Sie ihr angetan haben? Ein Lehrer sollte doch was von Kindern verstehen. Sie sollten mal ein Mann sein und an die Front gehen wie andere anständige Männer auch! Dann lernen Sie vielleicht, was ein Menschenleben wert ist. Meine Tochter ist jedenfalls anständiger und sauberer als Sie! Sie werden sich bei mir und meiner Tochter entschuldigen, sonst passiert was! Und sollte mein Mann heil aus dem Felde zurückkommen, machen Sie sich auf was gefasst! Und für Leute wie Sie kämpft er und riskiert sein Leben! Pfui Deibel!" Und sie spuckte vor ihm aus. "Recht hat Paula", "Saubeutel, Schurke, Schuft" riefen die anderen Frauen. Und die Kinder starrten staunend und ergriffen. Anna fasste die Hand ihrer Mutter und zog. Sie fühlte zwar eine tiefe Befriedigung, aber so ganz geheuer war ihr die öffentliche Beschimpfung des Lehrers nicht. Irgendwie schämte sie sich. Darüber, dass der Lehrer sie gedemütigt hatte? Darüber, dass ihre Mutter den Lehrer öffentlich beschimpft hatte? Darüber, dass der Lehrer seine Autorität verspielt hatte? Wie konnte sie sich je wieder in die Schule trauen? Musste sie nicht immer am Lehrer vorbeigucken, den Blick gesenkt halten? Würden die anderen Kinder sie hänseln? Am nächsten Tag ging sie wieder zur Schule. Sie guckte unbeteiligt und wurde erst einmal in Ruhe gelassen. Dann wurde bekannt, dass sie einen neuen Lehrer bekommen würden. Sie wussten nicht, ob der jetzige Lehrer einberufen worden war oder versetzt werden sollte.
Die Schule im Dorf
Der neue Lehrer war schon pensioniert, aber wieder aktiviert worden. Der Krieg ging ins vierte Jahr. Der Lehrer blickte erst einmal ganz gutmütig drein. Seine Erscheinung war nicht sonderlich imposant. Er war von eher kleiner Gestalt und trug einen grauen Anzug mit Weste. Über seinen kugeligen Bauch spannten sich die Knöpfe der Weste. Die Uhrkette schien aus Silber und von beträchtlichem Gewicht, so ließen ihre dicken Glieder vermuten. Zog er die Uhr aus der Westentasche, senkte er den Blick und führte die Uhr vor seine Augen. Dann hob er verheißungsvoll das Angesicht und kündigte die nahe Pause oder das Unterrichtsende an. Er winkte Anni heran, gab ihr vier Groschen und schickte sie zum Brauseholen in den Kolonialwarenladen um die Ecke. Er hielt sie wohl für pfiffig. Das war sie auch, denn sie kam ihm schnell auf die Schliche. In der Klasse hing an einem Kartenständer eine Karte von Europa. Anfänglich hatten sie zu Unterrichtsbeginn oder als Abschluss des Schultages den Kriegsverlauf auf der Karte nachvollzogen. Sooo groß war Deutschland schon. Aber es wollte nicht recht vorangehen. Von fürchterlichen Schlachten und ungeheuren Verlusten an Soldatenleben war die Rede. Man guckte seltener, und wenn, dann sorgenvoll auf die Karte. Aber warum verschwand der Lehrer immer häufiger hinter der Europakarte, je mehr sich der Schultag dem Ende zuneigte? Er blickte immer versonnener und nahm hoch konzentriert und vorsichtigen Schrittes Kurs auf einen Schüler, der seine Hilfe beim Schreiben oder beim Rechnen brauchte. Seine Erklärungen wurden immer karger und manchmal direkt unverständlich. Erst dachten einige Schüler, dem Lehrer gehe es nicht gut, aber Anni wusste es genauer. Sie offenbarte den staunenden Mitschülern ihre Beobachtungen. Sie war ihm nachgeschlichen und hatte einen Blick hinter die Karte riskiert. Dort stand er, mit nach hinten geneigtem Kopf und glücklicherweise geschlossenen Augen und nahm einen Zug aus der Limonadenflasche. Anni wusste, was die Flasche enthielt. Denn bei Anni hatte die Neugier über den Respekt vor fremdem Eigentum und vor dem Lehrer gesiegt. Sie hatte bereits einmal auf dem Rückweg vom Kolonialwarenladen, hinter einer Hecke, vom Inhalt genippt. Und so viele Male schon war Anni in der Gaststätte "Zur Endstation" von jovialen Männern zum „Probieren“ eingeladen worden, dass sie wusste, dies war Klarer, Schnaps also, manchmal auch Zielwasser oder Feuerwasser genannt. Und dann wurde Anni übermütig. Sie schlüpfte aus ihren Holzpantinen und barfuß oder auf Socken dem Lehrer hinterher. Alle wussten nun Bescheid darüber, was der Lehrer dort anstellte. Die Kinder kicherten, denn Anni musste auch noch Faxen machen, bevor sie hinter die Karte lugte. Vom Lehrer sah man nur die Beine und Füße. Doch eines Tages hörte man ein Klatschen hinter der Karte, und Anni schoss auf ihren Platz auf der letzten Bank zurück. Der Lehrer hatte sie beim Spionieren endlich erwischt und geohrfeigt. Eher verlegen als wütend, stieß er noch hervor: "Jordan, du bist ein Affe!" Sie krähte zurück: "Ein Affe hat vier Beine, ich habe nur zwei, Herr Lehrer!" Das fand sie bis ins hohe Alter witzig, es war aber biologisch in dieser Pauschalität nicht ganz korrekt, denn jeder Gorilla, Schimpanse oder Orang-Utan würde es sich verbitten, als Vierbeiner bezeichnet zu werden! Der Lehrer ließ es durchgehen und schickte sie vor die Tür. Die meisten Mitschüler fanden sie ganz schön mutig. Ich selbst fand die Geschichte witzig, die meine Mutter häufig erzählte, empfinde nachträglich aber Mitleid mit dem alten Herrn, der aus seinem Pensionärsdasein noch einmal an die Schule genötigt wurde.
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