8.
Im Gemüte eines Menschen, der sich selbst der Zucht und Läuterung unterzogen hat, trifft man nichts Eiterndes oder Beflecktes, nichts von geheimen Schäden an. Sein Leben ist nicht unvollendet, wenn das Schicksal ihn ereilt, wie man etwa von einem Schauspieler sagen könnte, er sei von der Bühne abgetreten, ohne seine Rolle ausgespielt zu haben. Zudem ist an ihm nichts Sklavisches noch Geziertes, kein Streben, sich aufzudringen, und ebenso wenig sich abzuschließen, kein Bemühen, der Rechenschaft oder dem Lichte der Öffentlichkeit sich zu entziehen.
9.
Ehre die Urteilskraft! Denn ganz von ihr hängt es ab, zu verhüten, daß sich beim Herrscher in dir nimmermehr eine Ansicht festsetze, welche mit der Natur und mit der Einrichtung eines vernünftigen Wesens im Widerspruche steht. Diese aber verlangt von uns Zurückhaltung eines vorschnellen Beifalls, anhängliche Liebe zu den Menschen und Folgsamkeit gegen die Götter.
10.
Alles Übrige denn beiseite gelegt, halte nur an dem Wenigen fest und bedenke überdies, daß jeder bloß die gegenwärtige Zeit – einen Augenblick – lebe, die übrigen Zeitabschnitte dagegen für ihn entweder schon durchlebt seien oder noch im Dunkeln liegen. Unbedeutend ist also, was jeder lebt, unbedeutend der Erdwinkel, wo er lebt, unbedeutend auch der ausgedehnteste Nachruhm. Denn er zieht sich durch eine Reihe gar schnell dahinsterbender Menschenkinder fort, welche nicht einmal sich selbst, geschweige denn einen längst Verstorbenen kennen.
11.
Den hier ausgesprochenen Lebensregeln möge noch eine beigefügt werden: Von jedem Gegenstand, welcher in den Kreis deiner Vorstellungen fällt, bilde dir einen genauen bestimmten Begriff, sodass du denselben nach seiner wirklichen Beschaffenheit unverhüllt, ganz und nach allen seinen Bestandteilen anschaulich erkennen und ihn selbst sowohl, als auch die einzelnen Merkmale, aus denen er zusammengesetzt ist und in die er sich wieder zerlegen läßt, mit ihren eigentümlichen Namen zu bezeichnen vermögest. Denn nichts ist für die Weckung eines hohen Sinnes so förderlich als die Geschicklichkeit, jeden Gegenstand, der uns im Leben aufstößt, nach einer richtigen Methode zu untersuchen und ihn stets von der Seite ins Auge zu fassen, wo es uns zugleich einfällt, in welchem Zusammenhange er stehe, welchen Nutzen er gewähre, welchen Wert er für das Ganze, welchen für den einzelnen Menschen habe, als Bürger jenes höchsten Staates, zu dem sich die übrigen Staaten nur wie die einzelnen Häuser zur ganzen Ortschaft verhalten. Sprich bei dir selbst: Was ist denn das, was jetzt diese Vorstellung in mir erregt? Aus welchen Teilen ist es zusammengesetzt? Wie lange kann es seiner Natur nach bestehen? Welche Tugend muß ich ihm gegenüber geltend machen? Etwa Sanftmut? Mannhaftigkeit? Wahrheitsliebe? Hingebende Einfalt oder Selbstgenügsamkeit oder irgend eine andere Tugend? Daher muß man bei jedem einzelnen Ereignisse also sprechen: Dies kommt von Gott, jenes von der durchs Schicksal gefügten Verkettung der Umstände und auch von einem zufälligen Zusammenflusse von solchen, oder endlich, es rührt von einem Genossen unseres Stammes, Geschlechtes und Umganges her, der jedoch nicht weiß, was für ihn naturgemäß sei. Aber ich bin damit nicht unbekannt. Daher behandle ich ihn, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft verlangt, wohlwollend und gerecht, nehme jedoch auch in gleichgültigen Dingen auf ihn nach Maßgabe derselben Rücksicht.
12.
Wenn du, der gesunden Vernunft folgsam, dasjenige, was dir im Augenblicke zu tun obliegt, mit Eifer, Kraft, Wohlwollen betreibst und, ohne auf eine Nebensache zu sehen, den Genius in dir rein zu erhalten suchst, als ob du ihn sogleich zurückgeben müsstest: wenn du so mit demselben verbunden bleibst und, ohne etwas zu erwarten oder zu fürchten, dir an der jedesmaligen naturgemäßen Tätigkeit und heldenmütigen Wahrheitsliebe in deinen Reden und Äußerungen genügen lassest, so wirst du ein glückliches Leben führen, und es wird sich niemand finden, der dich daran hindern könnte.
13.
Wie die Ärzte für plötzliche Operationen ihre Werkzeuge und Eisen stets zur Hand haben, so sollst auch du deine Überzeugungen in beständiger Bereitschaft halten, um göttliche und menschliche Dinge richtig anzusehen und, eingedenk des gegenseitigen Zusammenhangs beider, alles und auch das Geringste danach auszurichten. Denn du wirst ebenso wenig etwas Menschliches ohne Beziehung auf das Göttliche, als umgekehrt, glücklich zustandebringen.
14.
Treib’ dich nicht länger unstet umher! Denn du kommst ja doch nicht mehr dazu, deine eigenen Denkwürdigkeiten oder die alten Geschichten der Römer und Griechen oder die Auszüge aus anderen Schriftstellern zu durchlesen, welche du für dein Alter zurückgelegt hast. Strebe also zum Ziele, gib leere Hoffnungen auf und komm, so lange du es noch kannst, dir selber zu Hilfe, wenn du dich selbst einigermaßen lieb hast.
15.
Sie wissen nicht, wie vieldeutig Worte sind z.B. wie: Stehlen, Säen, Kaufen, Ruhen, Sehen, was zu tun sei; denn das letztere geschieht nicht mit den leiblichen Augen, sondern mit einer anderen Sehe.
16.
Leib, Seele, Geist – dem Leibe gehören die Empfindungen an, der Seele die Triebe, dem Geiste die Grundsätze. Das Vermögen, durch Eindrücke von außen Vorstellungen zu empfangen, besitzen auch unsere Haustiere; durch Triebe puppenartig hin- und hergezerrt zu werden, ist den wilden Tieren und auch jenen Halbmenschen, wie einem Phalaris und Nero, den Gottesleugnern, Vaterlandsverrätern und den Übeltätern hinter verschlossenen Türen gemein. Wenn nun nach dem Gesagten dies und anderes derart allen gemeinschaftlich ist, so bleibt als eigentümlich für den Guten nur das übrig, daß er zu allem, was ihm als Pflicht erscheint, die Vernunft zu seiner Führerin habe, alles, was ihm durch die Verkettung der Geschicke begegnet, mit Liebe umfasse, den im Innern seiner Brust thronenden Genius nicht beflecke, noch durch ein Gewirre von Einbildungen beunruhige, sondern ihm seine Heiterkeit bewahre mit Anstand, wie einem Gotte ihm folge, und ebenso wenig etwas rede, was der Wahrheit, als etwas tue, was der Gerechtigkeit widerstreitet. Sollte aber auch alle Welt in sein einfaches, sittsames und wohlgemutes Leben Zweifel setzen, so wird er darüber weder jemand zürnen, noch auch von dem Pfade abweichen, welcher zu einem Lebensziele führt, bei dem man rein, ruhig, bereit und mit ungezwungener Ergebung in sein Schicksal anlangen muß.
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