3.
Hippokrates, der doch so viele Krankheiten geheilt hatte, erkrankte auch und starb. Die Chaldäer hatten vielen ihren Tod vorhergesagt, doch auch sie raffte hernach dasselbe Schicksal dahin. Nachdem Alexander, Pompejus und Sajus Cäsar so oft ganze Städte von Grund aus zerstört und viele tausend Reiter und Fußgänger in Schlachten gefällt hatten, mussten sie am Ende selbst aus diesem Leben scheiden. Heraklit hatte über den Weltuntergang durch Feuer so viele naturphilosophische Betrachtungen angestellt und starb zuletzt, in Rindsdünger gehüllt, an der Wassersucht. Den Demokrit brachten die Läuse, den Sokrates Läuse einer anderen Art ums Leben. Wozu diese Bemerkungen? – Auch du bist aufs Schiff gestiegen, bist abgefahren, bist in den Hafen eingelaufen. So steig’ nun aus! Geht’s in ein anderes Leben – so ist ja nichts ohne Götter, auch dort nicht! Geht’s aber in einen Zustand der Fühllosigkeit – nun so darfst du doch nicht mehr Schmerzen und Freuden erdulden, noch dich von einem Behälter knechtisch einengen lassen, der umso unedler ist, je größere Vorzüge der darin Dienende besitzt. Denn dieser ist der vernünftige Geist, der Genius in dir, jener hingegen nur Erde und Blutmasse.
4.
Verschwende nicht den noch übrigen Teil deines Lebens mit müßigen Gedanken um andere, sofern sie keinen Bezug auf etwas Gemeinnütziges haben. Denn du versäumst damit ein anderes Geschäft, wenn du darüber nachsinnst, was dieser und jener tue und warum er’s tue, was er sage, was beabsichtige und was anstelle und was dergleichen sonst noch dich von der Beachtung deiner herrschenden Vernunft abziehen mag. Wir müssen also das Unüberlegte und Vergebliche aus der Reihe unserer Vorstellungen zu beseitigen suchen, allermeist aber die fürwitzige und bösartige Neugier, und uns dagegen nur an solche Vorstellungen gewöhnen, über die wir, wenn jemand uns mit der Frage überraschte: »Was denkst du im Augenblick?«, sofort mit Freimütigkeit Bescheid geben könnten: »Dies und das dachte ich«, sodass man daraus sogleich ersehen könnte, hier ist alles lauter und wohlwollend in Gedanken, wie man es von einem geselligen Wesen erwarten kann, das alle Vorstellungen der Wollust oder der Genusssucht überhaupt, desgleichen der Streitsucht, des Neides, des Argwohnes und anderes der Art sich aus dem Sinne schlägt, wovon du nur mit Schamröte gestehen könntest, daß du dich innerlich damit beschäftigt habest. Wahrlich ein solcher Mann, der es keinen Augenblick aufschiebt, sich der Zahl der Besten anzureihen, erscheint als ein Priester und Gehilfe der Götter und zieht Gewinn von dem Genius, dem sein Inneres zur Wohnung angewiesen ward. Dieser macht aus dem Menschen ein Wesen, unbefleckt von Lüsten, durch keine Unlust verletzbar, durch keine Kränkung gebeugt, gegen jegliche Bosheit unempfindlich, einen Kämpfer im größten Kampfe, von keiner Leidenschaft gefällt zu werden –, tief durchdrungen vom Geiste der Gerechtigkeit und von ganzer Seele zufrieden mit dem, was ihm begegnet und beschert wird. Selten und nicht ohne dringende Not und nur in gemeinnütziger Absicht denkt er daran, was wohl ein anderer sage oder tue oder meine; denn nur was in den Kreis seiner Pflichten gehört, ist Ziel seiner Tätigkeit, und was im Gewebe des Ganzen das Schicksal ihm gesponnen hat, Gegenstand seines anhaltenden Nachdenkens. Jenen füllt er mit löblichem Eifer aus, dieses nimmt er in gutem Glauben an. Ist ja doch das jedem beschiedene Schicksal ihm zuträglich, weil es sich für ihn zuträgt. Auch dessen ist er stets eingedenk, daß alle vernünftigen Wesen miteinander in Verwandtschaft stehen und daß um alle Menschen sich kümmern der Natur des Menschen angemessen sei, man dagegen nicht nach dem Beifalle aller, sondern nur derjenigen trachten solle, welche naturgemäß leben. Wie aber die, welche nicht so leben, in und außer dem Hause, bei Tag und bei Nacht, sich benehmen und mit was für Leuten sie sich gemein machen, dessen ist er immer eingedenk. Auf das Lob solcher Menschen denn, welche nicht einmal sich selbst genügen, legt er nicht den geringsten Wert.
5.
Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht aufs Gemeinwohl, nichts ohne Prüfung, nichts im Gezerre der Leidenschaft. Schmücke deine Gedanken nicht mit schönen Redensarten; sei nicht geschwätzig, noch auch vielgeschäftig. Zudem sei der Gott in dir Führer eines gediegenen, gereiften, staatsklugen Mannes, eines Römers, eines Herrschers, der sich selbst eine Stellung angewiesen hat, in welcher er, ohne eines Eidschwures oder eines Menschenzeugnisses zu bedürfen, fertig des Schalles wartet, der ihn aus diesem Leben abruft. Eines aber lasse dir gesagt sein: Sei heiter und nicht bedürftig der Dienste, die von außen kommen, auch nicht bedürftig des Friedens, welchen andere gewähren. Aufrecht also musst du stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden.
6.
Kannst du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Einsicht, Selbstbeherrschung, Mannhaftigkeit, mit einem Worte, als eine Gemütsverfassung, wo du in dem, was Gegenstand eines vernunftmäßigen Handelns ist, mit dir selbst, und in allem, was dir ohne dein Zutun beschieden wird, mit dem Schicksale zufrieden bist; kannst du, sage ich, etwas ersehen, das besser ist als dies, so wende dich dem mit voller Seele zu und freue dich des aufgefundenen Besten. Erscheint dir aber nichts besser, als der in dir thronende Genius, welcher die eigenen Triebe sich unterwürfig gemacht und, indem er seine Vorstellungen genau prüft, von den Vorspiegelungen der Sinne, wie Sokrates zu sagen pflegte, sich losgerissen und den Göttern untergeordnet hat und für Menschenwohl Sorge trägt, – findest du, gegen dies gehalten, alles andere gering und unbedeutend, so gib keinem andern Dinge Raum! Denn hast du dich einmal für ein solches Ding entschieden und ihm dich zugeneigt, so wirst du jenem Gute, das so recht dir zugehört, nicht mehr ungeteilt den Vorzug einräumen können. Denn einem Gute, welches auf das vernünftige und staatsbürgerliche Leben Bezug hat, irgendetwas Fremdartiges, wie den Beifall der Menge oder Ehrenstellen, Reichtum oder Sinnengenüsse, an die Seite setzen, wäre unrecht; würde ja doch dieses alles, wenn es dir anfangs auch nur wenig zu taugen schiene, dich mit einem Male ganz in Beschlag nehmen und mit sich fortreißen. Du vielmehr, sage ich, wähle mit offenem und freiem Sinne das Bessere und halte an demselben fest. Das Bessere aber ist auch das Nützliche, und wenn es dir als vernünftigem Wesen nützt, so bewahre es, wenn aber nur als tierischem, so erkläre dich dagegen; nur erhalte dein Urteil frei von Anmaßung, um mit Sicherheit eine Prüfung aufstellen zu können.
7.
Erachte nie etwas als vorteilhaft für dich, was dich je einmal nötigen könnte, dein Wort zu brechen, die Scham hintan zu setzen, einen Menschen zu hassen, gegen ihn Verdacht zu hegen, ihn zu verwünschen, dich vor ihm zu verstellen, nach etwas lüstern zu werden, wobei es der Wände und Vorhänge bedürfte. Denn wer die Vernunft und seinen Genius und den seiner Herrlichkeit geweihten Dienst allem vorzieht, der wird keine Tragödie aufführen, nicht stöhnen, nicht zur Einsamkeit noch auch zur großen Gesellschaft seine Zuflucht nehmen müssen: er wird im erhabensten Sinne des Wortes leben, ohne das Leben zu fliehen oder ihm nachzujagen. Ob er aber seine Seele auf einen längeren oder kürzeren Zeitraum im Körper eingeschlossen haben soll, das macht ihm nicht die mindeste Anfechtung. Denn wenn er sich auch im Augenblick vom Leben trennen sollte, er scheidet so fertig aus demselben, als sollte er irgend ein anderes Geschäft betreiben, das sich mit Anstand und Würde verrichten läßt. Davor nun hütet er sich sein ganzes Leben hindurch, daß sein Sinn nicht einer Wandelbarkeit sich überlasse, die einem Menschen nicht ansteht, welcher zu einem vernünftigen und staatsbürgerlichen Leben berufen ist.
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