Das Auto mit Namen Lotte gehört wie fast alles im gemeinsamen Haushalt zu jenen Dingen, die über Jahre treu ihre Dienste geleistet haben. Einige davon haben bereits früheren Generationen gedient, zuletzt seiner Mutter, nagt der Zahn der Zeit nunmehr erbarmungslos an ihnen.
Weshalb allerdings ein Backblech, das an den Ecken zwar die Emaille verloren, ansonsten aber noch recht ordentlich ausgesehen, auf den Müll hat wandern müssen, um einem neuen Platz zu machen, bleibt Markus schleierhaft. Johanna hat noch kein einziges Mal gebacken, bisher. Seitdem das Mädchen bei ihm eingezogen ist, vervielfachen sich derartige Ausgaben. Auch aus diesem Grund erscheint ihm ein zielgenauer Einsatz der noch vorhandenen finanziellen Mittel umso wichtiger.
Sein Ziel heute ist es, mit dem eigenen Fahrzeug an die See zu fahren. An einen Leihwagen mag er gar nicht denken, fuhr er nie ein anderes Auto als Lotte. Und die ganze Zeit Johanna hinter dem Lenkrad sitzen zu lassen, das will er ihr nun auch nicht zumuten. Überhaupt Johanna. Er müsste einmal nach ihr schauen. Sie fühlt sich so schnell vernachlässigt von ihm.
Markus will gerade seinen Sitzplatz verlassen, als der Mechaniker ihn auffordert: „Starten Sie bitte nochmals!“
Nichts lieber als das. Allein es hilft nichts.
„Besitzen Sie eine Betriebsanleitung für dieses Fahrzeug?“
August steht wiederum vor der Fahrzeugtür, dieses Mal die Arme hinter dem Körper verschränkend.
Betriebsanleitung?
Markus muss nun doch einen Moment überlegen, was der gute Mann im blauen Overall meinen könnte. Dann aber reißt er eilfertig das Handschuhfach auf. Außer Zigaretten, diverse Sonnenbrillen und leere Schokoriegelverpackungen fällt ihm freilich nichts Prozessförderndes entgegen.
Er zuckt mit den Schultern. Der Monteur tut ihm leid. Aus eigener, schmerzlicher Erfahrung weiß Markus, wie es ist, wenn man vergeblich versucht, Dingen auf den Grund zu kommen. Zum Beispiel, warum jemand wie Matthäus Goethe und Schiller ein Liebesverhältnis andichtet, wo doch beide Kinder gezeugt haben. Welch Scharlatan, welch Illusionist.
Mindestens genauso würde es ihm aber leidtun, wenn Johanna und er gezwungen wären an Weihnachten zu Hause zu bleiben.
„Ich komme sofort wieder!“ Markus eilt aus der Garage über den Hof in das Haus.
Wo ist nur Johanna?
Er findet sie im Arbeitszimmer sitzend, den Telefonhörer noch in der Hand, das Gespräch scheint soeben beendet worden zu sein. Ihr Gesicht gleicht dem seiner Studenten, wenn er sie beim Abschreiben erwischt. Er schwankt, was er zuerst fragen soll. Dann platzt er heraus: „Haben wir eine Betriebsanleitung für das Auto?“
„Im Kofferraum. Beim Werkzeug.“
Er spürt ihre Erleichterung, eilt zurück in die Garage. Die andere Frage verschiebt er auf später. Ein Mann muss schließlich Prioritäten setzen.
Als Markus den Kofferraum öffnet, glaubt er sich erklären zu müssen: „Wir bleiben mehrere Tage.“
Die Zweifel im Angesicht des Monteurs schwinden davon nicht. Markus hebt, während er nach einer überzeugenderen Erklärung sucht, zwei Kisten Wein, eine Kiste Champagner und einen Koffer aus dem Kofferraum.
Vielleicht ist es doch zu viel für die paar Tage und der Benzinverbrauch erhöht sich ebenso mit der ganzen Last.
Er misst erneut den Stapel neben sich auf dem Betonboden.
Allerdings, gesetzt den Fall, es bricht ein Schneesturm los und beide würden eingeschneit werden. Sie wären somit abgesichert. Lediglich Johanna müsste noch ihren Vorrat beisteuern.
Er wühlt weiter, kommt über eine Klappe an das Reserverad, findet endlich die Betriebsanleitung. Stolz überreicht er das Papier: „Außerdem, Essen finden sie überall. Gute Getränke hingegen sind rar. Können Sie das verstehen?“
August nickt vorsichtshalber, schaut stumm auf das mit den Jahren gelb gewordene Papier.
Ist noch etwas?
Halb wendet der Monteur sich zum Gehen, hält sodann ein, fragt über die Schulter hinweg: „Sind Sie eigentlich Johannas Vater?“
Markus' Oberkörper, soeben eingetaucht im Kofferraum, schießt empor. Die Flaschen in der Kiste, die er darüber vergessen hat abzustellen, klirren aufgeregt:
„Was hat das mit Ihrer Arbeit zu tun?“
„Nichts“, bestätigt August vorsorglich.
"Und weshalb sollte ich ihr Vater sein?", schnaubt Markus.
„Nun“, der junge Mann hebt an, beißt sich auf die Lippen, schmunzelt letztlich und argumentiert: „Weil Sie sich mit diesem Auto nicht auskennen.“
Für einen Moment starrt Markus den Monteur sprachlos an.
Das ist schon ein starkes Stück!
Die Kiste in seinen Armen wird schwer. Markus stellt sie zurück in den Kofferraum, auch um Zeit zu gewinnen. Schließlich berichtigt er: „Trotzdem, es ist mein Auto.“
August hebt die Hände um sich zu entschuldigen.
Sie könnten es schaffen. Diese Giganten würden Johannas Brüste wohl umschließen. Vielleicht haben sie es ja bereits, in der Vergangenheit. Immerhin kennt der Monteur das Mädchen beim Namen. Kümmert sie sich um Werkstatttermine und ähnliches, da Markus weder Zeit noch Muße für diese Dinge des Alltags zu haben glaubt.
Diese Kraft, die Augusts Hände verkörpern, Ehrfurcht einfordern. Verstohlen betrachtet er die eigenen. Markus weiß durchaus mit ihnen umzugehen und sie sind auch nicht hässlich. Er kann zum Beispiel ein winziges Stück Kreide noch zwischen seinen Fingern halten, ohne dass es ihm entwischt beim Schreiben an der Tafel. Oder den Atem so dosieren, dass er allein mit einem Pusten eine Bücherseite umblättert. Das hat er schon als Junge geübt, weil die Mutter ihn mahnte, Bücher weder an den Ecken zu knicken noch mit den Fingern zu verschmutzen.
Freilich, im Vergleich mit Augusts Handwerkerpranken fehlt ihnen die Macht, der Elan des Zupackens. Seine Hände streicheln lieber über Bücherrücken, zeichnen die Linien nach von Weinflaschen oder Frauenkörpern, als das sie den Garten umgraben, eine Maurerkelle schwingen oder den Reifen am Auto wechseln.
Nimm deine Kreidetücher von meiner Werkbank, hat einmal jemand zu ihm gesagt.
Markus glaubt sich zu erinnern, es war der Vater jener Freundin, welche sich über die Boxershorts amüsierte.
Sie hatten nicht zueinander gepasst, diese Frau und er. Aber welche Menschen passen schon zueinander? Von vorn herein und jeden Tag immer neu, wenn man sich nicht täglich justiert, aneinander. Wo der Mensch sich doch angeblich fort entwickelt. Aber wohin eigentlich?
„Kennen Sie Johanna schon länger?“, versucht Markus möglichst beiläufig zu fragen.
August schaut mit hochrotem Kopf hinter der Haube hervor: „Seit der Schule.“
Ob die Gesichtsfarbe von der Frage oder vom Festziehen einer Schraube herrührt, wagt Markus nicht zu beurteilen.
„Sie hat allen Jungs den Kopf verdreht. Mit ihren langen blonden Haaren, ihrer zarten Erscheinung.“
„Zarte Erscheinung?“
Markus attestiert seiner jungen Freundin vieles, vorrangig positives. Gleichwohl als zarte Erscheinung würde er sie ehrlicherweise nie bezeichnen. Ihr Körper, so wenig es Markus stört, verliert sich zunehmend in weicher Fülle. Andere würden es vielleicht Üppigkeit nennen. Bis zum „runden Nichts“, einer Verleumdung, wie sie einst Christiane, Goethes Lebensgefährtin, von den Weimarer Hofdamen hatte erleiden müssen, ist es allerdings noch ein weiter Weg. Johanna ist jung, eigentlich viel zu jung für ihn. Aber das ist ein anderes Kapitel.
„Klar, eine zarte Erscheinung ist sie jetzt nicht mehr.“
August scheint keineswegs verwundert. Er nimmt den Schraubenschlüssel, welchen er zuvor allein in der rechten hielt, in beide Hände. So als wolle er sich an ihm festhalten. „Früher war Johanna eine Gazelle, wirklich. Und sehr zielstrebig. Manche in der Klasse nannten sie Streberliese. Ich glaube, sie empfand es als Antrieb. Deshalb wundere ich mich umso mehr…“
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