Wovon sprach dieser versponnene Zwerg? Was ist noch keinem gelungen? Worüber soll ich nachdenken? Ja, und was tue ich denn? Was wollte mir der Alte sagen? Hält sich wohl für besonders intelligent und glaubt, deshalb in Rätseln sprechen zu dürfen. Ich weiß nicht, was abgeht, und das Stück Trockenobst belegt mich. Ob er weiß, dass er eine volle Knastmacke hat? Wohl kaum.
Und werde ich in ein paar Tagen ebenso delirieren? Schon möglich, aber mir total Brust. Wenn es soweit ist, merke ich es ohnehin nicht. Und wenn doch, dann ist es eben noch nicht weit genug. Geduld, mein Freund, was Bessres kann dir fast nicht passieren.
Kaum hatte ich die Augen geschlossen und mich einem anregend schlüpfrigen Traum genähert, klirrte irgendein Nachtwächter sein schweres Schlüsselbund gegen die Zellentür, knipste das Licht an und sah durch den Spion. Instinktiv sprang ich jedes Mal von der Pritsche, bezog vor dem Fenster Stellung und machte mich voll zum Löffel. Im Halbschlaf nahm ich Ausbrüche höchster Belustigung wahr.
Irgendwie fand ich das gar nicht lustig. Doch steckte mir die Reaktion seit der Untersuchungshaft noch im Blut. Dort tönte allmorgendlich eine ohrenzerreißende Hupe durchs Haus. Wer das Wecksignal überhörte, konnte unmöglich noch unter den Lebenden weilen. Kurz darauf flog die Zellentür auf. Alle Insassen hatten stramm vor dem Fenster Aufstellung genommen und einer, in aller Regel der, der Mund und Augen aufbekam, erstattete lautstark Meldung: "Guten Morgen, Herr Hauptwachtmeister! Zelle Vierhundertzwölf mit drei Inhaftierten! Keine besonderen Vorkommnisse!"
Der Angebrüllte nickte selbstzufrieden, trat einen Schritt zurück und ein Kalf reichte eilig das herein, was sie gerne auch als Frühstück bezeichneten.
Nach zwei Tagen, oder besser Nächten, hatte ich herausgefunden, was sie mit ihren stündlichen Störmanövern bezweckten. Von da ab war Schluss mit Löffel. Ich hob nur noch einen Arm oder wackelte mit einem unter der Decke hervorgestreckten Fuß, um meinem besorgten Nachtwächter zu zeigen, dass ich zu Hause sei und mich bester Gesundheit erfreue. Dann schlief ich friedlich weiter - bis zur nächsten Runde.
Wecken war um sechs. Locker aus dem Handgelenk, ersetzten ein paar kräftige Schläge mit dem Schlüsselbund gegen die Tür das Hupsignal. Nach dem Aufschluss brachte ich Matratzen und Pferdedecke zurück auf den Flur, klappte meinen Wandschmuck hoch, nahm den Kübeleinsatz und schlenderte zum anderen Ende des Bunkers als befände ich mich auf dem Weg zum Bäcker.
In Zelle Nummer sechs leerte ich den Kübelinhalt in eine richtige Toilettenschüssel und drückte eine richtige Wasserspülung. Die hatten wirklich jeden Schnickschnack. Dann wusch ich mich am einzigen Waschbecken mit eisig kaltem Wasser. Übrigens einem winzigen Ding, das zudem meinem Kübel frappant ähnelte.
Immer fand sich irgendwo auf dem Beckenrand eine Ecke Kernseife. Und auch an Zahnbürsten herrschte kein Mangel. Ich wählte eine unter den fünf auf der Ablage in Brusthöhe über dem Waschbecken liegenden aus und schrubbte meine Zähne. Es war ein schönes Gefühl, sich etwas aussuchen, selbst bestimmen zu können. Mein Gesicht ließ ich an der Luft trocknen, und meine Hände wischte ich an das Handtuch, welches Freitags gewechselt wurde.
Eines Morgens, ich vermute, es war der siebente Tag, entdeckte ich auf der Ablage eine Tube Chlorodont 69. Es war ein Morgen wie jeder andere: Kein Mond, der mich führte; kein Sonnenstrahl, der mich wärmte - und doch sandte er einen Lichtblick.
Ein Schließer musste die Zahnpasta vergessen haben. Sofort war ich hellwach. Ich lauschte, ob sich ein Schlüssel näherte und hörte ein dumpf hämmerndes Geräusch - mein wild klopfendes Herz. Blitzschnell schnappte ich die Tube, drückte deren Inhalt einen fingerbreit nach oben, faltete den Tubenfalz zwei Mal um und bog sie solange hin und her, bis sie abbrach. Geschwind ließ ich es im Overall verschwinden, knickte das Ende der Aluminiumtube weitere zwei Mal und legte sie zurück auf die Ablage.
Arrestanten unterlagen einem strikten Sprechverbot. Obwohl mir nicht ganz klar war, welche Strafe mir drohte, umging ich dieses Verbot, da sie mir bereits alles gaben, was sie anzubieten hatten, hielt ich es dennoch ein. Aber nur, weil einem überzeugten Morgenmuffel wie mir nichts besseres hatte passieren können.
In Gegenwart eines Schließers begrüßten wir uns mit einem Lächeln und einer kurzen Kopfbewegung. Was selten genug geschah, denn die meiste Zeit verbrachte ich allein im Dunkel der frühen Morgenstunden.
Nach der erfrischenden Morgentoilette und dem sichern des Holzbrettes mittels Vorhängeschloss, erhielt ich mein Frühstück - zwei Schwarzbrotscheiben mit hauchdünn aufgekratzter dunkelroter Marmelade und ein halb volles Plastiktässchen geschmacksneutralen Tees zum runterspülen.
Abends klebte irgendwo zwischen den beiden Brotscheiben Wurst, manchmal auch Käse. Mittags servierte man etwas warmes in einer Plastikschüssel mit Plastiklöffel. Insgesamt nicht üppig, aber ausreichend.
Beim täglichen Hofgang entrann ich der Abgeschiedenheit und Einsamkeit meiner Tage, wenn auch nur für kurze Zeit. Sechzig Minuten lief ich vor dem Zellenhäuschen im Kreis. Jeden einzelnen Augenblick unter freiem Himmel genießend. Ich kannte weder gutes noch schlechtes Wetter, nur die Gier auf ein paar Schritte in Freiheit. Ja, in Freiheit - auch wenn es merkwürdig klingen mag. Schneller und schneller, so als verlängere sich die Zeit, liefe ich so weit wie irgend möglich. Ich drehte meine Runden, trampelte lächelnd durch Pfützen und nickte vergnügt, tippte sich einer der beiden zur Überwachung abgestellten Schließer an die Stirn.
Zu anderen Gefangenen, drehten sie nun mit mir ihre Runden oder gingen sie nur vorüber, musste ich zwei Meter Abstand halten. Stehen bleiben, miteinander sprechen oder sich gar auf den Boden setzen führte zum sofortigen Abbruch des Luftschnappens.
Ihren Verboten zeigte ich die Brust, denn ich liebte diese Vorschriften. Ich wollte laufen, laufen, laufen, niemals wieder stehen bleiben. An keiner Stelle verweilen, nur eilen, weiter, weiter, vorwärts streben. Und sprechen? Worüber? Was hatte ich schon zu erzählen. Ich sah nährende Erde und ziehende Wolken. Das gehörte mir - ganz allein nur mir.
In diesem reizvollen Fluidum verbrachte ich zwei volle Wochen, an deren Ende ich fest davon überzeugt war, jeder weitere Tag triebe mich dem Tod in die Arme. Tagsüber turnte ich am Zaun, führte Selbstgespräche oder schlief auf dem kalten Boden liegend. Der Deckel öffnete sich zu den Mahlzeiten, zum Hofgang und zur Nachtruhe.
Die Abstände waren groß genug, um gelegentlich auch mal meinem Klappbett etwas Bewegung zu verschaffen.
Aus dem Kragen meines Overall fummelte ich den Aluminiumfalz der Zahnpastatube und drückte und drehte sie einige Sekunden im Schloss. Vernahm ich sein ungeduldiges Knacken, verbunkerte ich zunächst den Schlüssel im Kragen, bevor ich es losband.
Ausgesprochen erholsam waren die Tagesstunden auf ihm freilich nicht. Ruhen war durchaus drin, schlafen nein. Unablässig suchte ein Ohr den Flur vor meiner Wohnung ab. Empfing es Geraschel, gar Klimpern, sprang ich vom Brett, klappte es hoch, ließ das sich nicht selten sträubende Schloss einschnappen und legte mich unschuldig schlafend auf den Boden.
Sieht man mal von Borrmanns Gegenwart ab, mangelte es mir an nichts. Nicht das er mir irgendwie abging. Ich hätte nur zu gern gewusst, weshalb ich in verschärfte Einzelhaft kam. Rein der Ordnung halber. Neugierig war ich bestimmt nicht.
Überraschenderweise besuchte er mich am vierzehnten Tag. Flankiert von zwei Schließern baute er sich vor meinem Zaun auf und fingerte desinteressiert an seinem korrekt sitzendem Plastikgezwirn.
"Wie haben Ihnen die zwei Wochen gefallen?", fragte er, an mir vorbei auf den Kübel starrend.
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