„7…6…5…4…3…2…1. Deine Antwort, Junge!“
Chris schüttelte stumm den Kopf. Es gab nichts, was er entgegnen konnte. Und eine gute Lüge fiel ihm beim besten Willen nicht ein.
Der Mann schoss. Entgeistert sah sein Kumpan zu, wie der fremde Junge rückwärts zu Boden fiel.
Anna hörte den Schuss trotz der Versicherung des Wilderers und begann, zu rennen. Es durfte noch nicht zu spät sein!
Das Schneemobil der Pistenwache raste den Berg hinauf, wobei der Fahrer versuchte, auch noch das Letzte aus dem Fahrzeug heraus zu holen. Hinter diesem tauchten auch noch andere Pistenfahrzeuge aus dem Nebel auf, der zu dieser Tageszeit stets noch im Talkessel hing. Anna war mithilfe ihrer Skier so schnell den Berg hinunter gefahren, wie sie konnte, um dann gleich ins Polizeipräsidium zu rennen und den Vorfall zu melden. Natürlich sprach sie nicht von ihrem Bruder in der Rolle des Wolfes, erwähnte auch die vorherigen Begegnungen nicht, aber ansonsten blieb sie bei der Wahrheit. Das musste ausreichen. Wölfe standen ja schließlich unter Naturschutz. Chris war in Gefahr, verdammt! Sie wünschte, das Schneemobil wäre schneller, die Strecke kürzer – alles, nur um schneller zu ihm zu gelangen!
Die Strecke bis zur alten Scheune war nicht sehr weit, aber da erst die Schneemobile startklar gemacht werden mussten, hatte es doch etwas länger gedauert.
Der Mann, der neben dem Jungen kniete, fühlte dessen Puls.
„Er lebt noch. Ich habe daneben geschossen. Aber schau dir mal seinen Fuß an. Sieht so aus, als wäre er erst kürzlich in eine unserer Fallen getreten.“
„Wie kommt es dann, dass wir es nicht erfahren haben? Außerdem ist keiner so unvernünftig und geht in dem Aufzug, “ er deutete auf die kurzen Kleider des Jungen, „nach draußen. Was machst du da?“
„Ihn fesseln. Das Mädchen hat inzwischen sicherlich Hilfe geholt. Ohne eine Geisel kommen wir hier nicht mehr raus.“
„Und was willst du dann machen, wenn wir so weit weg sind, dass sie uns nicht mehr einholen können? Abgesehen davon, dass er sowieso mit größter Wahrscheinlichkeit erfriert?“
„Ihn zurücklassen.“
„Dann stirbt er!“
„Das ist mir vollkommen egal.“
„Verlassen Sie mit erhobenen Händen das Gebäude! Sie sind umstellt! Wenn Sie sich jetzt stellen haben Sie bessere Chancen in einem fairen Prozess!“
„Du gehst zuerst. Und vergiss nicht: ein Fehler und du bist tot!“ Mit diesen Worten stieß der Größere den Jungen durch die Tür, durch die er ihm sofort folgte, die Pistole an dessen Schläfe gepresst. Sein Kumpan tat es den beiden gleich. Auch er war jetzt bewaffnet.
Sie hatten dem Jungen die Hände vor dem Körper zusammen gebunden, dann war er erwacht.
Ihr Gefangener konnte durch seine Verletzungen kaum laufen oder sich selbst aufrecht halten. Es war ihm unmöglich zu fliehen.
Die beiden Wilderer hatten seinen Namen gar nicht erst wissen wollen, für den Fall, dass sie ihn doch eigenhändig töten mussten.
Anna stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus, als sie ihren Bruder erblickte. Chris war nur noch ein Schatten seiner selbst. Gesund wäre er eher gestorben als sich von jemandem stützen zu lassen, jetzt aber hielten ihn nur noch die Wilderer. Auf seinem hellen T – Shirt hatte sich ein immer größer werdender, rostroter Fleck gebildet und wenn er seinen rechten Fuß belasten musste, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. Er stürzte beinahe und der Mann hinter ihm fing ihn auf. Er legte seinen freien Arm um den Hals des Jungen. Wenn er jetzt fiel, erwürgte er sich selbst.
„Der Junge ist verletzt! Haben Sie das zu verantworten?“
„Teilweise. Aber darauf muss ich keine Antwort geben, wissen Sie. Datenschutz.“
„Ich könnte Ihnen beiden freies Geleit zusichern, wenn Sie ihn hier lassen.“
„Und wer sagt mir, dass Sie Ihr Wort halten? Keiner. Der Junge ist unsere lebende Versicherung dafür, dass wir hier weg kommen.“
„Dann geben Sie ihm bitte wenigstens meine Jacke!“
„Habe ich eine Garantie darauf, dass die nicht verwanzt ist? Nein. Es bleibt dabei!“
Der Ganove zog den Jungen an sich, gerade als dessen Beine unter ihm wegsackten, schob dessen gefesselte Arme um seinen Hals und ging los, immer weiter hinaus in das Schneegestöber. Die verängstigte Menge wich schweigend zurück, denn niemand bezweifelte, dass er seine Geisel letztendlich doch töten würde, sobald sich auch nur die kleinste Gelegenheit dazu bot.
„ Meint Ihr wirklich, dass uns hier niemand aufspürt?“
Der Dieb hatte Angst, das konnten sie alle ganz deutlich hören. Er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte, ansonsten hätte er vermutlich nicht zugesagt. Aber sie hatten diesmal Auftraggeber, die ein Versagen nicht dulden würden. Entweder, er bekam die Goldfigur, die sie stehlen sollten, oder sie würden in Zukunft Schwierigkeiten bekommen.
Henry arbeitete tagsüber normalerweise in einem Hospital in der Nähe, da er sich schlichtweg weigerte, unlauteren Tätigkeiten nachzugehen, aber Monsieur und Michel hatten diesmal darauf bestanden, dass er sie begleitete. Schließlich verdienten sie so ihren Lebensunterhalt und er hatte früher oder später etwas beizutragen. Das karge Gehalt, das das Versorgen der Kranken abwarf, gab in dieser Richtung verständlicherweise nicht viel her. Aber immerhin machte ihm die Arbeit Spaß.
Er kniete bei einem Kranken, als er herumgerissen wurde. Ein schwerer Knüppel traf seinen Kopf. Henry taumelte, blieb aber bei Bewusstsein. Dann sprang er auf und versuchte, zu fliehen. Er kam nicht weit. Der Angreifer hielt ihn zurück und stieß ihm dann mehrere Male das Messer in den Leib. Er traf das Herz des jungen Schattenwandlers, woraufhin dieser vor Schreck die Augen weit aufriss und dann zusammensackte. Der Mann ließ ihn liegen.
Mit dem Blut, das aus seinen zahlreichen Wunden und seinem Mund flutete, verließ auch das Leben seinen Körper. Es wurde dunkel um ihn herum. Schwärzer als die Nacht.
Der Patient im Krankenbett verfolgte den Angriff mit den Augen. Der Mörder beugte sich zu ihm hinunter.
„ Es wird Ihnen genauso ergehen, sollten Sie versuchen, dem Duke of Gloucester zu schaden.Merken Sie sich das!“
Dann drehte er sich um und verschwand. Der Mann im Bett sank zurück in die Kissen und wünschte sich, er hätte irgendetwas für den Jungen tun können.
„ Sie sind sein Vormund, Mylord?“
„ Durchaus. Wo steckt der Junge?“
„ Es ist meine traurige Aufgabe, Ihnen mitzuteilen, dass wir gestern Abend überfallen wurden. Der Attentäter hatte es wohl auf den Earl of Salisbury abgesehen, ihn aber verfehlt. Seine Lordschaft schlief während des Vorfalls. Ihr Mündel kam tragischerweise ums Leben.“
Monsieur wand sich innerlich ob dieser Nachricht. Wenn jemand Henry die Kehle durchgeschnitten hatte, war das eine Sache. Aber sie mussten Kontakt mit dem Sonnenlicht trotzdem auf jeden Fall vermeiden. Der Junge war noch nicht lange Vampir. Er würde verbrennen.
„ Wo kann ich ihn abholen? Ist er noch in Ihrem Hospital?“
„ Ja. Wir haben sogar bereits einen Sarg anfordern lassen. Nur so teuer, wie es sein Verdienst erlaubt. Ich hoffe, das war in Ihrem Interesse.“
Elender Leuteschinder. Aber zumindest hast du das Richtige getan.
„ Das war es. Wo kann ich ihn finden?“
„ Kommen Sie einfach ins Hospital und fragen Sie nach Bruder Peter. Der weiß dann, was zu tun ist.“
Der Mann drehte sich um und ging. Seine freundliche Maske hatte für heute genug geleistet.
Es war schade, dass Queen Victorias Regierungszeit vor einem Jahr abgelaufen war. Sie hatte sich nicht weiter in die Politik eingemischt und es ihm leicht gemacht, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Monsieur war ein Meister der Manipulation. Er grinste. Es würde sich schon jemand finden, der genauso leicht beeinflussbar war wie die alten Herren des englischen Königreiches…
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