„Du wirst die Touristen beobachten. Berichte mir alles, was sie tun!“
„Ja, Sir.“
Am dritten Tag seiner umfangreichen Aufgabe wurde er entdeckt. Inzwischen wusste er, wie auch sein Meister, dass die geheimnisvollen Fremden Werwölfe waren…wie er selbst.
„Sind wir so interessant?“ Erschrocken fuhr er herum. Er war so auf das Beobachten fixiert gewesen, dass er nicht gemerkt hatte, wie der Mann sich von hinten näherte. Es war einer aus der Gruppe, der, den sie Anton nannten.
„Denkst du etwa, wir haben nicht bemerkt, dass du uns seit drei Tagen fast ununterbrochen beobachtest?“
„Ich…“
Der Wolf schnitt ihm das Wort ab. „Spar dir die Mühe. Das kannst du uns erklären, wenn wir alle beisammen sind.“
Chris versuchte ihm mit einem Schritt rückwärts auszuweichen, doch kaum einen Meter entfernt sackte er mit einem Fuß im Schnee ein.
Als der Mann seinen Oberkörper packte und ihn heraus zog, brach der Knöchel. Der Junge konnte nur mühsam einen Schmerzensschrei unterdrücken. Der Werwolf sah ihn prüfend an, packte dann seinen Kopf und schlug diesen an den nächsten Baum. Chris verlor das Bewusstsein.
„Du hast ihm den Knöchel gebrochen.“ Der Vorwurf in ihrer war unüberhörbar.
„Früher hätte man einen feindlichen Spion auf der Stelle erschlagen.“
„Wir leben aber Jetzt!“
Der Junge stöhnte. Wie auf ein Zeichen sahen nun beide auf ihn herunter. Während sein Blick sich aufklärte erkannte Chris, dass es wiederum Anton und Cinderella waren, die ihn anstarrten. Der Mann ging in die Knie und lehnte sich auf seinen Oberkörper, sodass ihm die Luft knapp wurde. Die gebrochene Rippe bohrte sich tiefer in sein Fleisch. Er fuhr zusammen.
„Wer hat dich geschickt?“
Es war genau wie kurz vor dem Schuss. Chris wusste, dass er nichts sagen durfte, denn ansonsten gefährdete er nicht nur sein Leben sondern auch Annas. Vielleicht würden ihn auch diese Leute töten, wenn er nicht antwortete. Aber er konnte nicht.
„Darf ich … nicht sagen.“
„Lass ihn in Ruhe.“ Diese Stimme kannte er noch nicht. Der Junge wandte den Kopf. Sie gehörte zu demjenigen der Männer, der am Wenigsten sagte, aber immer so leise, dass er es nicht verstand, und den alle anderen dennoch besonders achteten. Er schien hier so etwas wie der Anführer zu sein.
„Wann hast du dich zum ersten Mal verwandelt?“ Adrian beobachtete, wie die Augen des Jungen groß wurden. Der Kleine war ein Wolf, ganz eindeutig, aber trotzdem…irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Allein die Tatsache, dass der gebrochene Knöchel noch nicht wieder verheilt war, war seltsam. Hätte er ihm die Jacke ausgezogen, er war sich sicher, dass noch weiteren Verletzungen zum Vorschein gekommen wären. Der Vampir war nicht zimperlich und er war sich im Klaren darüber, dass dieser Welpe das wusste. Das blaue Auge des Jungen zeugte davon. Normalerweise hatte jeder Werwolf einen extrem beschleunigten Heilungsprozess, von dem im Fall des Jungen aber keine Rede sein konnte. Vielleicht arbeitete er mit dem Vampir zusammen.
Aber genau der war es doch, der allen Wölfen den Gar ausmachen wollte!? Dieser Welpe konnte unter keinen Umständen freiwillig hier sein.
Er winkte die anderen zu sich heran und begann, ihnen seinen Plan im Bezug auf den Vampir zu erklären. So laut, dass der Junge es mithören musste.
Dieser Ferienjob scheint ja eine wahre Goldgrube zu sein! Wenn mein kleiner Bruder es nicht einmal mehr für nötig hält, ab und zu nach Hause zu kommen..
Anna war langweilig. Alle ihre Freunde waren entweder verreißt, auf den Höfen ihrer Eltern beschäftigt oder hatten selbst einen Ferienjob und einfach keine Zeit dafür, sich mit irgendwem zu treffen. Außerdem wollte sie nicht jedem hinterher telefonieren, nur weil der selbst zu faul war, um sie anzurufen.
„Nein!“ Adrian wandte sich um. Na also. Der Junge sah ihn an. „Sie dürfen das Haus nicht angreifen!“
„Ach nein? Warum denn nicht?“
„Er tötet meine Schwester, wenn Sie das tun.“
Das war es also. Der Vampir erpresste den Jungen damit, dessen Schwester zu töten. Und wahrscheinlich auch ihn selbst. Dieser Welpe wurde praktisch von einem ihrer Widersacher gefangen gehalten. Das konnte noch sehr nützlich sein.
„Du willst mir weismachen, dass du es geschafft hast, dir auf dem Rückweg den Knöchel zu brechen und deswegen erst so spät kommst?“
„Ja Herr. So ist es.“ Die Lüge kam Chris erstaunlich leicht über die Lippen. Inzwischen wusste er, dass der Vampir ihn töten würde, wenn er erzählte, dass einer der Werwölfe ihm - absichtlich oder nicht - den Knöchel gebrochen hatte, dass sie nun von ihm wussten und einen Plan aushackten, den Vampir zu vernichten. Dass sie mit ihm gesprochen hatten.
Er glaubte noch immer nicht, dass er bei dem ganzen nicht von irgendwem umgebracht wurde, aber inzwischen wollte er nicht mehr sterben. Es gab schließlich Dinge, für die sich zu leben lohnte. Zum Beispiel seine Familie. Oder Iris.
Wenn das Ganze hier vorbei war und er noch lebte - für den Fall das das jemals eintreten sollte - konnte er sich von den Wölfen zeigen lassen, wie er seine Kräfte kontrollieren musste und dann wieder in sein vorheriges Leben zurückkehren.
Dennoch war er erstaunt, dass sein Peiniger ihm zu glauben schien.
Er lügt. Wieso nur überraschte ihn diese Erkenntnis nicht? Einem Werwolf zu glauben war Irrsinn. Aber andererseits hatte ihm der Junge nun endlich einen Grund gegeben, ihn zu töten. Das war doch mal etwas Gutes!
Diese Hundehütte war zu eng, zu klein und verdammt kalt. Außerdem tat ihm alles weh. Jemand lief dort draußen an der Wand entlang. Der Vampir? Wohl kaum. Der würde sich nicht die Mühe machen, sich anzuschleichen, wenn er ihn erneut verprügeln wollte.
„Chris?“
Er zog sich soweit es ging ins Innere zurück. Niemand, absolut niemand durfte ihn hier finden!
„Ich bin`s, Cinderella. Ich weis, dass du da drin bist. Wie hat er reagiert?“
Erleichtert stieß er die Luft aus.
„Ich weis nicht, ob er es geglaubt hat, aber ich bin zumindest noch am Leben, also kann er nicht allzu viel mitbekommen haben.“
„Adrian? Der Junge scheint bis jetzt soweit wie möglich außer Gefahr zu sein.“
„Gut. Lassen wir ihn in dem Glauben.“
Endlich wandte er sich ihr zu. Seine Augen glänzten, ein Umstand, der sie beunruhigte.
„Du willst ihn nicht sterben lassen, oder? Er ist einer von uns.“
„Ich habe nicht vor, ihn sterben zu lassen, aber ich glaube, dass unser Freund ihn auf jeden Fall töten will. Und was die Tatsache angeht, dass er angeblich einer von uns ist… ich bin mir nicht sicher. Irgendetwas stimmt da nicht. Nimm zum Beispiel seinen Heilungsprozess. Der scheint mir ja noch der eines Menschen zu sein.“
„Du glaubst, er ist nach wie vor ein Mensch.“
„Nicht wirklich.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber durch ihn haben wir nun die Gelegenheit, diesen verdammten Vampir endlich zu töten.“
Unsanft wurde er von einem Fußtritt aus dem Schlaf gerissen.
„Steh auf!“
Da er den Tonfall kannte, kam er so schnell er nur konnte auf die Beine, vergaß dabei aber
seinen verletzten Knöchel und knickte zur Seite weg. Der Vampir knurrte animalisch, packte
den Jungen und stapfte mit seiner Last ins Haus.
Dort angekommen, warf er ihn auf den Boden, nahm eine bereitstehende Eisenstange und drückte Handgelenke und Hals des Jüngeren fest auf den Boden. Er wusste, dass das diesem Schmerzen bereiten musste und setzte noch einen drauf, indem er die Stange so hoch schob, dass der Welpe unweigerlich keine Luft mehr bekam. Bevor er jedoch ohnmächtig werden konnte, zog der Vampir die Stange mit einem Ruck weg.
Er schlug seinem noch benommenen Gegenüber ins Gesicht, sodass er hören konnte, wie Ober.- und Unterkiefer hart aufeinander schlugen.
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