1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Sanfte Finger strichen über seine Wange, doch bevor er die Kraft aufbringen konnte, den Kopf zu heben, gaben seine Arme nach und er fiel in die angenehm warme Schwärze der Ohnmacht.
Mit angezogenen Knien hockte Amon am Fußende des Bettes und beobachtete Leona, die vorsichtig mit ihrer verbliebenen Hand eine Schiene um das möglicherweise gebrochene Knie anzubringen versuchte. Die Jahrhunderte unter Satans Willkürherrschaft hatten sie gelehrt, Wunden zu versorgen und gebrochene Knochen richtig verheilen zu lassen. Ohne ihre Fürsorge hätten viele Dämonen einen grausamen, schmerzhaften Tod erlitten.
„Jetzt hat der Dummkopf seine Lektion hoffentlich gelernt“, murmelte Amon und spielte mit seinem Zopf. Immer wieder glitt sein Blick zu dem blassen Gesicht und den heftig unter geschlossenen Lidern zuckenden Augen. Mit seinem wilden Blick, dem starken Körper und den riesigen Schwingen war der Engel an sich wunderschön und auch die von Satan zugefügten Wunden verliehen ihm etwas Wildes. Doch diese überschäumende Naivität und Selbstgerechtigkeit trübte das Bild des edlen, starken Engels. Amon hatte nur Spott für dieses Verhalten übrig.
„Er ist nicht von hier“, hielt Leona dagegen und streichelte dem Engel durch das weiße Haar. „Er muss sich erst noch zurechtfinden und die Regeln der Hölle erlernen.“
„Dann hoffe ich, dass er sie schnell lernt. Wäre schade um sein hübsches Gesicht.“
Leona lächelte sanft.
„Du magst ihn, Amon.“
Schulterzuckend erhob sich Amon aus seiner kauernden Position und trat näher an den Bewusstlosen, um ihn eingehend zu mustern.
„Ein bisschen. Er ist ein Vollidiot, sein bequemes Leben im Himmel zu gefährden, aber das lässt sich jetzt wohl nicht mehr ändern.“ Sanft fuhr er durch die weißen Strähnen. „Und ich glaube auch nicht, dass er sich in Zukunft unterordnen wird. Lucifer wird uns noch einigen Ärger bereiten, Mutter.“
Es war eine Floskel, sie als Mutter zu bezeichnen, denn sie hatte lediglich seinen Körper geboren, obwohl er den Geist ihres eigentlichen Sohnes längst übernommen hatte. Amon war der Name, den er in diesem Leben trug, doch er hatte schon viele gelebt, sowohl als Dämon, als auch als Mensch. Wer auch immer ihm einen Körper gab, erlangte die Macht über das Schwert Kasdeya Elathan und bedauerlicherweise war es in diesem Fall Satan gewesen, der ihm den Körper seines Sohnes überlassen hatte. Dieses Opfer war ihm vermutlich nicht schwer gefallen.
„Er ist stark“, entgegnete sie ruhig. „Satan wird ihn nicht brechen können.“
„Das hast du schon bei vielen Männern und Frauen gesagt, die Satan gegenübergetreten und innerlich tot zurückgekehrt sind.“ Amon wandte sich ab, schlüpfte in seine Stiefel und öffnete die Tür. „Ich hege keine Hoffnungen, was diesen angeht.“
Ein wenig hilflos hockte Lucifer an der Bettkante und versuchte behutsam, sein Bein zu belasten. Drei Tage der Bettruhe und Leonas mütterlicher Pflege hatten seinem Geist gutgetan, doch sein Körper schmerzte noch immer von den Misshandlungen Satans. Sobald er auch nur versuchte, selbstständig zu stehen, zwang ihn der unglaubliche Schmerz in seinem Knie wieder aufs Bett, sodass er ohne Krücken vollkommen ausgeliefert war.
Leona sah mehrmals täglich nach ihm, brachte ihm Nahrung und Wasser zum Waschen, doch dem Mitgefühl einer Dämonin ausgeliefert zu sein bereitete dem stolzen Engel Unbehagen. Ab und an sah Amon bei ihm vorbei, doch dann lieferten sie sich lediglich Blickduelle, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Dennoch schätzte Lucifer die Gesellschaft des Schwertdämons, denn er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus, die dem Engel selbst Mut machte.
Als Leona eintrat, versuchte Lucifer soeben, ohne Stütze durch den Raum zu humpeln, woran er kläglich scheiterte. Mit einem warmen Lächeln setzte die einarmige Dämonin sich aufs Bett und sah ihm zu, bis er sich zu ihr gesellte. Schweißtropfen klebten an seiner Stirn, ohne dass die Anstrengung gefruchtet hätten.
„Du solltest dein Bein schonen, Lichtbringer“, sagte sie sanft. „Wenn der Knochen schief verheilt, wirst du sonst humpeln.“
„Das ist noch meine geringste Sorge“, knurrte Lucifer unwillig und betrachtete unglücklich sein verletztes Bein.
„Schone deine Kräfte für heute Nachmittag, Lichtbringer. Eine Delegation des Himmels wird sich zwecks Friedensverhandlungen mit Satan in der Hölle einfinden; vielleicht können deine Leute dir helfen, von diesem Ort zu entkommen.“ Die Sorge in ihrer Stimme war echt, dennoch hätte Lucifer die Dämonin für diesen Kommentar am liebsten angeschrien.
„Ich will ihre Hilfe nicht!“, grollte er. „Gott hat mir diese Strafe auferlegt und ich werde sie ertragen, wie von mir erwartet!“
Er erwartete nicht, dass sie es verstand, und war dementsprechend nicht überrascht, als sie ihn skeptisch betrachtete. Vielleicht glaubte sie, er habe den Ernst der Lage noch nicht richtig verstanden, vielleicht hielt sie ihn auch einfach für dumm, nicht die erstbeste Chance zu ergreifen, von hier zu entkommen. Doch alles in Lucifer sträubte sich dagegen, andere Engel um Hilfe zu bitten, wobei er auch stark bezweifelte, dass sie ihm überhaupt helfen konnten. Dennoch freute er sich auf ein paar möglicherweise vertraute Gesichter, die ihm als Licht der Hoffnung in diesen finsteren Stunden leuchteten.
Bis zum Nachmittag verharrte er ruhend in seinem Raum, ohne von Satan belästigt zu werden. Erst als Amon eintrat und ihn über die Ankunft eines Engels in Kenntnis setzte, raffte Lucifer sich auf und humpelte, teilweise von Amon gestützt, zum Haupteingang des Palastes. Hier würde er den Engel, wer auch immer es sein mochte, abfangen können, ohne von Satan erwischt zu werden.
Sorgfältig legte Lucifer sich die Worte zurecht, die er an den Engel richten würde; eine Nachricht an Michael und Beliel, dass er noch am Leben wäre und sie sich keine Sorgen machen müssten. Je länger er über die beiden Männer, die ihm in seinem Leben am wichtigsten waren, nachdachte, desto zuversichtlicher wurde er.
Amon hielt sich im Hintergrund verborgen, doch Lucifer konnte seine Anwesenheit deutlich spüren. Merkwürdigerweise gab es ihm ein Gefühl von Sicherheit, solange er den wachenden Blick des Dämons auf sich wusste.
An eine Säule gelehnt wartete der geschundene Engel, bis er sich rasch nähernde Schritte hörte. Erwartungsvoll blickte er dem Engel entgegen und erkannte ihn auf Anhieb. Es handelte sich um einen kräftigen Erzengel mit bronzefarbenem Haar und von wahrer göttlicher Schönheit: Raziel, der Günstling Gottes.
Unruhig biss Lucifer sich auf die Unterlippe. Raziel war niemals in Frage gekommen für eine Revolution gegen Gott, doch es wunderte Lucifer, dass der Herr einen Engel niederen Ranges für eine wichtige Aufgabe wie diese ausgewählt hatte. Mit so viel Körperspannung wie möglich kam er ihm entgegen und bemühte sich, seine Beinverletzung nicht zu zeigen.
Raziel blieb stehen; sein Blick traf auf Lucifers, der kurz den Kopf vor ihm neigte, obwohl Raziels Rang ihm geboten hätte, sich vor Gottes ehemaligem Lieblingsengel zu verbeugen.
„Erzengel Raziel“, begann Lucifer ruhig. „Ich habe Euch eine Bitte anzutra-“
Der Schlag traf Lucifer unerwartet und obwohl nicht besonders fest, zwang er den Seraphim wegen des verletzten Beins zu Boden. Fassungslos tastete Lucifer über sein Gesicht und die von Raziels Stoß mit dem Ellbogen blutige Nase, dann blickte er zu dem Erzengel auf, der sich angewidert das Blut vom Arm wischte.
„Du hast kein Recht mehr, irgendein Geschöpf des Herrn noch anzubetteln!“, zischte er voller Abscheu. „Du bist weniger wert als der schlimmste Sünder, den die Menschheit jemals hervorbringen könnte!“
Lucifer konnte nicht glauben, was er da hörte. Eigentlich hätte Raziel seine Bitte zumindest höflich annehmen müssen, auch wenn er sie nicht weiterleitete, denn so gebot es das Gesetz des Himmels, dass die Engel einander zu achten hatten, besonders höherrangige.
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