Draußen sahen die Umrisse der Häuser kühl und grau aus, weil die frühe Herbstsonne bereits darauf schien. Hohe Fenster bildeten den Widerschein einzelner Wolken ab. Ich beschloss, mich nicht weiter einer aufkommenden lähmenden Trübsinnigkeit zu überlassen, mich stattdessen ganz von der Sonne füllen zu lassen, auch wenn das bedeutete, dass ich mein Gehirn aushöhlen musste. Die Gedanken würde ich, wie das fleischige Innere eines Kürbisses mit Fäden und Knoten, einfach hier in der Küche lassen; sollten sie doch dort weiterwuchern, ein unheilvolles Etwas auf dem Fensterbrett, mit dem sich dann die anderen herumschlagen konnten. Mein Vater warf mir einen Blick zu, als hätte er meinen Plan mitbekommen.
»Machst du für mich einen Tee mit?«
Ich wollte mich nicht länger aufhalten lassen und goß eilig das Wasser in die Kanne. Mein Vater wollte noch irgendetwas fragen, aber da war ich schon durch die Haustür verschwunden.
Die Sonne drückte sich scheu hinter den lichten Wolken herum. Sie war wie eine verschämte Tänzerin, die angewiesen wurde, auf der Bühne nicht viel zu tragen und nun notdürftig ihre seidenen Schleier um den Körper hüllte, um sich vor den Augen der Männer zu verbergen. Ich hätte sie gerne enthüllt und mich in ihrem Glanz erwärmt, ganz sanft hätte ich das getan, ohne sie zu verschrecken, und sie danach auch wieder hinter ihren Schleier zurücksinken lassen. Der ganze Tag besaß etwas Zaghaftes, die letzten Blüten erhoben sich blinzelnd ans Licht, die Vögel schlichen sich in die vom Regen übrig gelassenen Pfützen, in denen sie ihre eigenen müden Augen erblickten. An einem solchen Tag begann sich das dichte Geflecht aus alten Sorgen, Hoffnungen und Erwartungen unerwartet zu lichten und sich zu überschaubaren Strängen zu ordnen, deren Wurzeln man zu kennen glaubte. Ob sie wohl gerade ähnlich empfand, in ihrem weißen Zimmer, das von einer unbeteiligten schönen Natur umgeben war?
Nach dem Kuss kam sie mit zu mir nach Hause und wir verbrachten die Nacht miteinander. Wir redeten kaum ein Wort, unsere Körperteile fanden ganz natürlich zueinander, wie vorher unsere Lippen. So, als hätte jeder seine jeweilige körperliche Ergänzung im anderen, und zusammen würden wir ein perfektes Ganzes ergeben, so wie der Mond, dessen Scheibe sich draußen auf dem Wasser wellte.
Aber der Mond verschwand aus dem Wasser; und ich merkte, dass etwas fehlte. Ich neigte meinen Kopf zur Seite: Sie war nicht mehr da. An meiner linken Körperflanke, wo sie gelegen hatte, spürte ich nur einen dumpfen Schmerz. Ich war ein Tier, das im fahlen Mondlicht der ersten Morgenstunden vor sich hin blutete. Vögel kündigten den Tag an, aber ich war nicht bereit, ihn anzubrechen, ihm ein Stück für mich abzuringen. Man hatte mir abgetrennt, was zu mir gehört hatte.
Hätte ich damals gewusst, dass dieser Schmerz nur der Vorbote weiterer, noch verworrenerer Qualen sein würde, hätte ich seine Wurzeln vielleicht sofort aus meinem Herzen gerissen. So aber umhegte ich sie still. Trotz meiner schmerzenden Seite versuchte ich, mich aus dem Bett zu winden. Ich ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. An den Küchenwänden glitten die Lichter der Autos von der nahe gelegenen Schnellstraße entlang, von den Jalousien in kleine, schmale Stücke geschnitten. Das Licht flackerte und riss dann wieder ab wie ein Filmstreifen, so dass ich dachte, jemand wolle mir eine Geschichte vorführen. Ich setzte mich an den Tisch und betrachtete die Wand, bis sie stillstand und wieder weiß, sich unberührt ins Tagesleben einfügte.
Mir fiel ein, dass ich Bandprobe hatte. Die Aussicht darauf, Songs zu spielen, war fast das Einzige, das mich aus dem Haus locken konnte. Ich ging nach oben und packte meine dunkelrote E-Gitarre ein, die einsam an der Wand lehnte. Meine schmerzende Seite, so gut es ging, ignorierend, kletterte ich auf mein Fahrrad und verließ die Hofeinfahrt.
Im Grunde war es sowieso wieder höchste Zeit, dass wir an neuen Songs arbeiteten. Unser letztes Konzert war im September gewesen, und danach hatte sich jeder ein bisschen in der Winterruhe vergraben. In meiner Schublade häuften sich Textentwürfe und Tabulaturnotizen. Sie waren in tiefer Melancholie geschrieben worden, und wenn man sie nun an das Frühlingslicht hielt, würden sie wehmütig zu strahlen beginnen.
Unsere Band spielte Britpop, aber nicht nach dem Vorbild der Imitationen der Nullerjahre, die wiederum von naiven Vorstadtbengeln kopierten wurden. Auch nicht nach dem Vorbild der Beatles, die mittlerweile jeder Hardrocker prahlerisch als Einfluss angab. Wir waren Kinder der Neunziger, als die Popmusik bereits ihre Unschuld verloren hatte, aber noch nicht zur Hure geworden war. Als sie ihr süßes Heranwachsen genoss und sich aus dem Kleiderschrank ihrer Eltern täglich neue Klamotten zusammennähte. Von ihren Eltern hatte sie auch gelernt, nie zu viel Lipgloss aufzutragen, sondern lieber ungeschminkt daherzukommen. Wir mochten Blur und Pulp, aber auch die Pixies und Yo La Tengo.
Unser Sänger hieß Lukas, und wenn er nicht mit uns probte, saß er zuhause und malte. Sein großes Ziel war es, am Goldsmiths College in London aufgenommen zu werden. Er litt unter leichten manischen Episoden, die er mittlerweile so instrumentalisieren konnte, dass ihm dabei die erstaunlichsten Bilder gelangen. Man konnte leicht neidisch auf ihn werden, wenn man nicht wusste, dass die Kehrseite seiner manischen Phasen die Depression war.
Aida war unsere Bassistin. Sie war bei Hippie-Eltern aufgewachsen, die ihr früher Perlen in die Haare flochten. Aus Protest dagegen hatte sie sich in den letzten Jahren ihre Haare kurz schneiden lassen und begonnen, Gothic und New Wave zu hören. Sie sah beinahe schon aus wie Siouxsie Sioux.
Am Schlagzeug saß Mirko, in dessen Gesicht sich kaum einmal ein Muskel rührte. Er erzählte wenig von sich. All seine Emotionen schienen in seine Hände verlagert zu sein, die beim Schlagzeugspiel wie entfesselt über Toms und Becken wirbelten. Den meisten Bands fehlte ein guter Drummer, und wir waren froh, dass wir ihn hatten.
Ich bog in die Straße zum Anwesen von Aidas Eltern ein, in deren Garage wir probten. Man konnte hier wirklich von einem Anwesen sprechen; natürlich hätten es sich ihre Eltern niemals selbst gekauft, sie hatten es vererbt bekommen. Nach und nach hatten sie dann das alte Biedermeier-Interieur durch bunte Gardinen, Patchwork-Decken und Korbstühle ersetzt. Aidas Mutter hatte uns angeboten, unsere Proben in einem alten Zimmer im Haus selbst zu veranstalten, doch wir hatten uns ganz traditionell für die Garage entschieden. Außerdem befürchtete Aida, ihre Mutter würde sonst andauernd bei den Proben hereinplatzen, um uns irgendwelche Leckereien vorbeizubringen.
Aida war gerade dabei, ihren Bass zu stimmen, als ich in die Garage trat.
»Na, wo sind denn die anderen?«
»Mirko ist auf der Toilette und Lukas übt den perfekten Sprung ins Publikum…«
Mit einem amüsierten Lächeln im linken Mundwinkel nickte sie in Richtung des nachbarlichen Blumenbeetes, in das sich Lukas immer wieder mit theatralischer Geste rücklings fallen ließ.
»Du siehst aus, als hättest du schlecht geschlafen, meinte Aida und sah mich aufmerksam an.«
»Ich hab so gut wie gar nicht geschlafen.«
»Woran liegt’s?«
Ich war versucht, ihr meine Gefühlen preiszugeben, ihr meine Wunde an der Seite, die nun leicht zu brennen angefangen hatte, zu zeigen. Ihr Blick hielt mich fest, rüttelte und zog an den Türen zu meinem Inneren, doch da traten Mirko und Lukas in die Garage und ihr Blick ließ mich fallen. Die Türen klappten zu.
»Und, Benji, neue Texte von dir?«, fragte Lukas.
»Klar, da liegt ein ganzer Stapel in meiner Schublade zuhause.«
»Fine. Aber lasst uns erst mal ein paar alte Songs spielen, damit wieder Öl ins Getriebe kommt, ja?«
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