1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Er wurde ein bisschen müde, angenehme Müdigkeit. Seine Gedanken begannen wahllos zu treiben. Was, wenn da vorne am Ende der Schlange die Reiter der Apokalypse aufgetaucht waren, um jüngstes Gericht zu halten? Wenn da vorne die Gerechten von den Ungerechten geschieden wurden, welcher Gruppe würde er dann wohl zugeteilt werden? Und zu welcher Gruppe würde sein Vater gehören? Würde man ihm die letzten Jahre des Leids anrechnen und ihm das Fegefeuer ersparen? Und wo gehörte er selbst hin, wenn man den Maßstab der Gerechtigkeit angelegte? Was hatte er verdient? Aber gab es überhaupt Gerechtigkeit? Wahrscheinlich hatten die Reiter der Apokalypse die falschen »Files« dabei und nicht den geringsten Überblick, sodass alle Urteile vollkommen willkürlich und gnadenlos auf der Basis falsch zugeordneter Datenbestände ergingen. Würde er seinen Vater jemals wiedersehen?
Langsam kam wieder Bewegung in der Fahrzeugschlange auf. Und wenige Minuten später ging es weiter, als wäre nichts gewesen. Die Ursache für den Stau hatte sich in Nichts aufgelöst. Es konnte nicht wirklich dieser kleine Smart mit laufender Warnblinkanlage gewesen sein, an dem er gerade vorbei rollte.
Er sah auf die Uhr. Vor zwei Stunden hatten sie telefoniert. Würde sein alter Herr überhaupt noch da sein, wenn er es endlich geschafft hatte? Und was hatte er bis dahin womöglich angerichtet?
Sie würde viel zu spät kommen. Vielleicht würde er gar nicht mehr da sein? Er würde sicher keine volle Stunde auf sie warten, garantiert nicht länger als eine Stunde, das war sie ihm sicher nicht wert.
Sie hatte sich von Antje am Café Select absetzen lassen, weil sie Angst hatte, dass Antje ihr hinterher schnüffeln könnte. Jetzt hastete sie den Limat Quai entlang Richtung Hotel. Am Café Odeon machte sie kurz Halt, um auf die Toilette zu gehen. Jetzt war eh schon alles egal. Sie war zu spät dran und konnte nichts mehr ändern. Auf ein paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an.
Sie warf einen Blick in den Spiegel und kramte hektisch in ihrer Handtasche nach den Schminksachen. Mit eckigen Bewegungen frischte sie ihr Makeup auf. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie es kaum schaffte, den Lippenstift aufzutragen. Schnell überdeckte sie den verschmierten Rand mit Puder. Sie spürte wie die Anspannung in ihrem Inneren unerträglich wurde. Ihr wurde immer heißer. Sie hatte das Gefühl, dass sie wegrennen musste, und es kostete sie Kraft, dem Impuls zu widerstehen. Fast in Panik stopfte sie die Schminksachen in die Tasche zurück und rannte auf die Straße. Erst als sie den Rhythmus ihrer Schritte wieder aufgenommen hatte, wurde sie wieder ruhiger.
Als sie das Hotel vor sich auftauchen sah, spürte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Vor dem Eingang stand ein Krankenwagen mit Blaulicht, davor ein Streifenwagen und mehrere Limousinen in dezentem Grau. Sie verlangsamte ihren Schritt. Instinktiv wusste sie, dass keine Eile mehr geboten war. Sie konnte es körperlich spüren, dass diese Fahrzeuge zu ihrem Leben gehörten. Und je näher sie kamen, desto stärker wurde dieses Gefühl.
Langsam, wie in Trance betrat sie die Lobby. Die unterdrückte Hektik der Hotelangestellten, die versuchten, das Aufsehen so gering wie möglich zu halten, berührte sie nicht. Plötzlich fühlte sie sich ruhig und entspannt. Als sie die Empfangstheke erreicht hatte, hatte sie keine Angst mehr, null.
»Ich habe eine Verabredung mit Herrn Dr. Langer von Zimmer 302.« Der Mann am Empfang sah sie erstaunt an. Sie konnte das leichte Erschrecken in seinen Augen erkennen, bevor er sich wieder professionell im Griff hatte und mit den Worten »Einen Moment bitte« im Backoffice verschwand. Als er nach ungefähr zwei Minuten wiederkam, hatte er einen untersetzten, etwa 45-jährigen Mann mit schütteren, blonden Haaren im Schlepptau, der sie aus freundlichen blauen Augen anblickte. »Ich bin Kommissar Revelli vom Zürcher Kommissariat«, stellte er sich vor. Er sprach langsam und entspannt, was unwillkürlich dazu führte, dass alle um ihn herum in der angespannten Atmosphäre noch einen Tick zulegten. So wie ein langsamer Autofahrer die anderen motorisierten Verkehrsteilnehmer durch sein langsames Fahren nicht etwa beruhigt, sondern zu zusätzlicher Hektik veranlasst.
»Kommen Sie!« Revelli machte eine weit ausholende Geste mit seinem rechten Arm und führte sie gemächlich zu einer Ledersitzgruppe inmitten der Lobby, wo er sie bat, Platz zu nehmen. »Es gab einen kleinen Unglücksfall im Hotel«, sagte er nach einer lässigen Pause mit geradezu sanfter Stimme. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Klar«, nickte sie und fühlte sich wie im Film. »Fragen Sie.«
»Sie haben eine Verabredung mit Herrn Dr. Langer? Kennen Sie den Herrn?«
»Nein«, antwortete Sie wahrheitsgemäß.
»Darf ich fragen, warum sie mit ihm verabredet sind?«
»Er ist mein Vater.« Sie zögerte einen Moment und setzte dann hinzu: »Zumindest hat man mir das gesagt...«
Kommissar Revelli sah sie an. Es war nichts in seinem Blick, kein Erstaunen, kein Interesse, er sah sie nur einfach etwas länger an, ausdruckslos. »Wie darf ich das verstehen?«
»Ich hab ihn noch nie in meinem Leben gesehen, jedenfalls nicht bewusst. Er hat meine Mutter verlassen, bevor ich geboren wurde, oder kurz danach.« Sie bemühte sich, diesen Satz vollkommen emotionslos zu sagen. Es gelang ihr nicht ganz. Sie fing an, an ihrer Lippe zu zupfen, zwang sich aber sofort, wieder damit aufzuhören, als sie es bemerkte.
Kommissar Revelli sah sie weiter an. Jetzt glaubte sie, eine minimale Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Er fühlte sich unwohl und konnte es nicht ganz verbergen. Gleich würde er ihr etwas Schreckliches offenbaren, dessen war sie sich mit einem Mal sicher. Und sie konnte spüren, was es war. Sie würde keine Gelegenheit mehr haben, mit ihrem Vater zu sprechen. Diese plötzliche Gewissheit schnürte ihr den Hals zu. Sie schluckte. Vergeblich, sie fühlte sich weiter so, als hätte ihr jemand die Hände um den Hals gelegt, um sie langsam zu ersticken.
»Ich muss Ihnen leider etwas Unangenehmes sagen«, meinte Revelli zögernd. »Es könnte sein, dass Ihrem Vater etwas zugestoßen ist. Der Herr von Zimmer 302 ist vor zwei Stunden tot aufgefunden worden, vom Zimmerservice.«
Sie schwieg, versuchte an nichts zu denken. Vergeblich. Keine Chance mehr, über das Vergangene zu reden, wurde ihr mit einem Schlag bewusst. Sie hatte sich davor gefürchtet, aber sie hatte auch darauf gehofft. Jetzt war es vorbei. Diesmal schaffte sie es, völlig regungslos zu bleiben. Revelli merkte sicher nicht, wie schwer sie die Nachricht getroffen hatte.
»Schade, wenn sie ihn noch nie gesehen haben, können sie ihn natürlich auch nicht identifizieren, nehme ich an«, fuhr Revelli fort. »Das hätte uns natürlich sehr geholfen. Wir haben einen Passport gefunden, aber es wäre natürlich hilfreich gewesen, eine weitere Identifikation zu haben.«
Ihr fiel auf, dass Revelli dreimal hintereinander »natürlich« gesagt hatte, und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. War er plötzlich nervös?
»Kann ich ihn trotzdem sehen?«, fragte sie.
Kommissar Revelli richtete wieder seine ausdruckslosen Augen auf sie und lies einige Sekunden verstreichen. Wenn er in dieser Zeit nachdachte oder versuchte, sie einzuschätzen, und überlegte, welche Wirkung der Anblick des Toten wohl auf sie haben würde und ob er es riskieren sollte oder nicht, so konnte man ihm dies jedenfalls nicht ansehen. Es wirkte eher, als hätte er einfach in eine Art unerklärlichen Standby-Modus geschaltet.
»Kommen Sie«, sagte er nach einer Weile trocken und ansatzlos, stand auf und ging durch die Lobby voran Richtung Lift.
Als sie in dem engen Aufzug nebeneinander standen, fiel Sarah auf, wie klein er war. Sie spürte nicht den Hauch einer sexuellen Erregung. Und das war selten bei ihr, denn sie war es gewohnt, jeden Mann sofort auf seine Eignung als Sexualpartner zu scannen. Aber Revelli war einfach zu klein und nicht ihr Typ. Sie versuchte, sich auf seinen Körpergeruch zu konzentrieren. Als es ihr gelang, die leicht säuerliche Note seines Schweißes von den restlichen Gerüchen im Fahrstuhl zu separieren, war ihr klar, warum sie keine sexuelle Antenne für Revelli hatte – sie konnte ihn einfach nicht riechen. Besonders eklig fand sie, dass er anscheinend versuchte, seinen Achselgeruch durch ein billiges, seifiges Deo zu überdecken. Ein vergeblicher Versuch.
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