Wagners ausgestreckte Hand wies zur Irrtumsvorbeuge auf den Wandbehang, er lobte: „Wie schön“.
Wohlfahrts Gesicht durcheilte eine Verwandlung ins Hochgestimmte: „Das Halfter im Original trugen seinerzeit die Pferde der Offiziere im zweiten Leibhusarenregiment Königin Victoria von Preußen“.
Wagner kannte die Geschichte aus dem Effeff, nickte wohlgefällig, fragte mit ernsthaftem Interesse: „Wie viele Mitglieder zählt inzwischen ihr Traditionsverband?“
„Zweiundsechzig, aber…“
Wagners Augen weiteten sich in Gemeinschaft eines milden Lächelns: „Aber?“
Wohlfahrt überreichte Wagner die Bockwurst, strich die abgezählten Münzen ein, senkte die Stimme, obwohl sonst niemand im Raum verweilte: „Aber wir werden mehr und mehr, weil wir unser Aufgabenfeld aufstocken. Wechseln gar unseren Namen. Aber egal, welchen Namen das Kind am Ende trägt. Wir sind wild entschlossen. Wir gründen eine Bürgerwehr.“
„Oh“, rutschte Wagner ohne Absicht heraus.
„Wir Bürger setzen uns zur Wehr. Gegen alles, was unser schönes Leben zur Sau macht. Wir schaffen Ordnung, die Einhaltung von Prinzipien und eine Sicherheit, die jeder Bürger hochgradig fühlt. Und Sie, Herr Doktor, laden wir herzlich für diese Zukunft ein. Als geistigmoralische Speerspitze unserer Wertegemeinschaft. Sozusagen.“
Der Augenblick überforderte Wagner. Betreten schaute er zur Seite, rettete sich alsbald in einen Blick zu seiner Armbanduhr.
„Oh, gleich neun. Ich muss und möchte“, lächelte er gezwungen, probte einen Scherz: „Sonst entlässt mich der Herr Direktor in die Qualen des Nichtstuns.“
Wagner steckte die Kaufware in die Aktentasche, die eine Flasche Mineralwasser barg sowie eine Laufmappe mit befristeten Leihgaben, die wertvollen Originalbriefe entstammten dem Wismerk-museum in Potsdam. Trotz fortgeschrittener Zeit wahrte der mittelgroß gewachsene, drahtige Mann mit den haselnussbraunen Augen, aufrechten Schultern und dem geradlinigen Seitenscheitel im volldunklen Haar das Spaziergängerartige. Fragen über das gerade Gehörte bedrängten ihn nicht, indessen plagte ihn seit Tagen die Problemstellung, ob seine bisherigen Erkenntnisse über das zwischenmenschliche Sündenregister im Wismerk-geschlecht einen größeren Artikel lohnt oder gar genug Stoff für eine Artikelserie bietet.
Nach dem Schwenk in die Haupteinkaufsstraße postierte sich die Sonne grell vor ihm. Ihm schoss das Wort Himmelswächter in den Sinn, beschwingt dachte er, der Bote Gottes, was er uns täglich an irdischer Lebensfreude überbringt. Der Anblick dreier herumalberner Mädchen wärmte Wagner ebenso, zudem das Draufloslaufen eines Kleinkindes in Richtung eines älteren Mannes, der in gebückter Haltung die Arme weit ausstreckte. Wagner fiel auf, dass ein Eineuroladen eine Pelzboutique ersetzte und das Nachbargeschäft, dessen Auslage bislang hochfeine Schokoladen in eigener Manufakturherstellung anpries, eines Nachmieters bedurfte. Die Geschäftsaufgabe der Manufaktur für süße Augenblicke bedauerte Wagner, er verkehrte hier regelmäßig in kurzen Abständen. Nie verließ er das Geschäft ohne Biancoschokolade, in der
Nuancen von Vanille und Honig den Duft frischer Milch anreicherten. Die Gaumenfreude streichelte Mon Lubanas Seele. Eine Tafelhälfte verschlang die junge Frau vor der beiderseitigen Willensbekundung, den Rest im Zuge innerer Nachbereitung.
Kerngesunde Altbaumbestände von Eichen und Linden rahmten das Wendaler Preußenmuseum von drei Seiten. Der Backsteinbau mit Satteldach umfasste drei Etagen, vom Keller zweigte ein verschütteter Tunnel ins Unerforschte ab. Seitliche Ziergiebel, ein Turm mit einer Glocke und einer vergoldeten Wetterfahne sowie die Sandsteinfigur des Heiligen Mauritius am Nordgiebel reicherten die äußere Schlichtheit an. Die Eingangshalle bestach durch vier Kreuzrippengewölbe auf achteckigen Säulen, Fresken mit biblischen Themen erbaten eine aufwändige Restaurierung.
Das Museum verkehrte in Augenhöhe mit den Schwestereinrichtungen in Potsdam und Köln, Wagners Veröffentlichungen in namhaften Publikationen mehrten den ausgezeichneten Ruf des Hauses unter Fachleuten. Die Besucherzahlen erlitten seit Jahren eine rückläufige Entwicklung, die als einzige Gegenmaßnahme mehrfach heraufgesetzten Eintrittspreise beschleunigten die Abwärtsspirale.
Wagners Büro lag direkt über dem Schutzpatron, zählte mit seinen vier Fenstern zu den stattlichsten Räumen im Haus. Allein das Vorzimmer maß die Größe der zwei größten Mitarbeiterzimmer, die jeweils drei Schreibtische beherbergten. Nach dem Vorruhestand seiner Sekretärin Sieglinde Meyer standen Wagner seitdem Praktikantinnen mehr und weniger hilfreich zur Seite, ihre Eingewöhnungsphase durchlebte gerade Ariane Schönwald. Die Tochter des Geschäftsführers eines Großhandelsunternehmens glänzte mit einem Einskommanull-abitur, vor dem Studium der Politikwissenschaften und der Weltreligionen in München behagte ihr ein praktisches Jahr. Das Bewerbergespräch führte Wagner persönlich, Ariane überflügelte zwei auf dem Papier gleichwertige Mitbewerberinnen. Als Einzige mied sie einen kurzen Rock, ein munterer Schlagabtausch über die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung überzeugte Wagner vollends. Nach Wagners Entscheidung bebte Ariane vor Begeisterung, sie lohnte ihm die Wahl mit einer stürmischen Umarmung und einem Wangenkuss. Ab dem ersten Arbeitstag glänzten ihr starrköpfiger Wahrheitsdrang und ihr findiger Recherchefleiß, Wagners Vorteilsnahme äußerte sich überdies in ihrer haushohen Überlegenheit im Gebrauch von Social Media. Tag für Tag behagte ihm zudem ihr abwechslungsreiches Outfit, schlichte Eleganz koppelte sie mit auffälligen Accessoires in Farbe und Form, die allesamt im Hochpreissegment siedelten. Ihren gruseligen Kaffee hakte er rasch als hinzunehmenden Übelstand ab, zuweilen dachte er frohgelaunt, sie kocht Kaffee in einer Art und Weise, dass mich jeder Schluck unweigerlich zu Mon führt. Auch Arianes Atemgeruch nach Mentholzigaretten störte ihn kaum, zu Anlässen außerhalb des Vorhersehbaren steckte er selbst einen Glimmstengel zwischen die Lippen.
Auf Wagners Schreibtisch dampfte der Kaffeepott, Arianes Computerausdruck seiner Tagestermine gestattete ihm nirgendwo eine Rückzugszeit für seine Liebe zum schrankenlosen Denken. Laut Plan traf um zehn Uhr eine chinesische Delegation ein, der Museumsdirektor halste Wagner das einstündige Herumführen auf, die Gruppe von Politikern und Wirtschaftsbossen einer wohlhabenden südchinesischen Provinz lotete die Ansiedlung einer Großproduktion von Haushaltshilferobotern mit dem Gütesiegel made in Germany aus. Als Begrüßungsgeschenk für die weitgereisten Gäste wartete eine voll erschlossene Gewerbefläche in riesenhaften Ausmaßen zum Nulltarif, zu den Mittwettbewerbern im Auswahlverfahren zählten nur noch Stuttgart und Hamburg.
In der Mittagszeit standen in der Druckerei letzte Absprachen für die Neuausgabe des Museumsflyers an, für dreizehn Uhr lag von Baron Werner Wismerk aus gegebenem Anlass eine Einladung zu einem Umtrunk in handverlesener Gesellschaft vor, die Rückübertragung des Anwesens Schloss
Döbbelau an die angestammten Eigentümer jährte sich zum dreißigsten Mal. Die Wochenbesprechung mit Museumsdirektor Professor Doktor Klaus
Richter montags um fünfzehn Uhr bürgerte sich als feststehendes Ritual seit Wagners Arbeitsbeginn vor zehn Jahren ein, die Zeit im Anschluss blockte Ariane für ein persönliches Anliegen, Doktor Lukas Falter erwartete seinen langjährigen Schulfreund zur halbjährlichen Zahnreinigung. Ariane notierte auch derlei Privattermine in den Terminkalender, das Zusammensein mit Mon verwaltete ausschließlich Wagners Kopf. Wagner süßte den inzwischen halbkalten Kaffee nach und dachte, was für ein guter Tag. Vorausgesetzt, Lukas raubt mir nicht die Lebensfreude.
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