„Bleibt im Haus, in der warmen Stube“, fügte er im Tonfall des Achtsamen hinzu. „Jedenfalls, so lange mein Urlaub dauert.“
Das Ertönen der schrillen Hofklingel schreckte allein Egon Wagner. Er griff nach Mütze, Schal und Wattejacke, der Himmel entrollte sein Blau großflächig.
Dem hämmernden Pochen rief er beherzt entgegen: „Bin schon unterwegs“.
Vor der Tür erwarteten ihn der Ortsgruppenführer der NSDAP Richard Schulze sowie vier Soldaten in Gestapouniform und mit lässig herabhängenden Maschinenpistolen, der Mann am Steuer des Lastkraftwagens mit Holzgasantrieb harrte im Fahrerhaus aus. Schulzes körperliches Gutaussehen steckte in ziviler Kleidung, der Bürstenschnitt der schwarzen Haare unterstrich eine jugendliche Erscheinung, der längliche Kopf barg lebenslustige Augen und eine formvollendete Nase.
„Heil Hitler, Egon“, rief Schulze mit den Händen in den Hosentaschen. „Wir suchen nach drei Arbeitstieren, die dem Baron letzte Nacht wegliefen. Bei Dir fanden sie nicht zufällig Unterschlupf.“
„Pferde halten wir nicht, tut mir leid“, wagte Egon Wagner einen Scherz. „Nur Kühe und Kleinvieh.“
„Das glaube ich Dir gern“, wahrte Schulze seinen unverfänglichen Ton. „Aber lass uns kurz nachsehen. Reine Routine.“
„Pflicht ist Pflicht“, mühte Egon Wagner hervor.
„Im Duett ausschwärmen, alles durchkämmen und Beute machen, aber die Tiere möglichst nicht erschießen“, befahl Schulze mit schneidender Heiterkeit. „Für jeden Polack, den wir lebend zurückbringen, spendiert der Baron als Finderlohn eine Kiste Champagner.“
„Ich bitte nur um eines“, druckste Egon Wagner. „Die Kühe lieben keine fremden Menschen, erst recht keine hektischen Umtriebe. Also…“
„Den Stall drehen wir nicht um“, feixte Schulze dazwischen. „Eine deutsche Kuh muht, wenn ein dreckiger Polack in ihrem sauberen Stroh liegt, sich womöglich am Euter satt säuft.“
Schulzes Hand schwang windmühlenartig mehrere Umdrehungen, die Soldaten stürmten mit den Gewehren im Anschlag der Scheune entgegen.
„Für mich hast Du bestimmt eine Tasse Deiner hochgelobten Milch übrig.“
„Natürlich“, zwang sich Egon Wagner zu Freundlichkeit.
„Ihr Wagners genießt wirklich einen guten Ruf in der Molkerei“, sagte Schulze im Gehen. „Eure Milch ist schön fett, die Kannen stehen immer pünktlich zur Abholung bereit und nie fehlt ein Liter am Soll für die Volksgemeinschaft.“
Ein flüchtiger Seitenblick führte Egon Wagner das Verschwinden der Soldaten in der Scheune vor Augen, mit weiterhin pochendem Herzen druckste er: „Danke. Das höre ich gern“.
In der Küche spülte Grete die winzigen Essenreste von den Tellern, das grob gesäuberte Geschirr legte sie in eine Zinkwanne mit heißen Wasser, sauberes Porzellan trocknete auf einem Spülbrett.
Mit dem Auftauchen Schulzes in der Küchentür unterbrach sie die Arbeit, verhehlte nicht ihr Misstrauen: „Was verschafft uns die Ehre des Ortsgruppenführers?“
Schulze beäugte sie unverblümt hingerissen, sagte: „Die Pflicht beschert mir unsagbares Glück. Eure Gegenwart.“
„Dem Baron liefen letzte Nacht drei Fremdarbeiter weg“, gelang Egon Wagner eine wertfreie Stimme.
„Und Sie glauben, sie verkrochen sich in unserem Stroh?“, wandte sich Grete unerschrocken an Schulze.
„Das glaube ich nicht, allerdings liebt mein Glaube das Wissen. Zu unser aller Beruhigung.“
„Grete, Richard trinkt gern eine Tasse heiße Milch.“
Wortlos ging sie zum Herd, löffelte im Topf die Haut von der erkalteten Milch. Sie beobachtete das Warmwerden, schenkte das Getränk für den ungebetenen Gast in eine Tasse des Sonntagsgeschirrs. Egon Wagner kämpfte mit tiefer Atmung gegen seine Angstzustände an, ein Bild in nächster Nähe mehrte sie. Sein Bruder querte mit Krücken den Hof, pausierte vor zwei Soldaten, die ausgestreckte Hand wies in Richtung Werkstatt.
„Wie lange dauert Dein Genesungsurlaub noch?“, wandte sich Schulze gelassen an Egon Wagner.
„Gut eine Woche.“
„Die Schusswunde, hindert sie noch?“
„Nein, alles bestens“, entwich Egon Wagner fahrig. „Alles ist gut verheilt. Die zwei Monate auf dem Hof wirkten Wunder.“
„Geht es zurück nach Frankreich? Helden wie Dich braucht allerdings mehr die Ostfront.“
Die Worte entlockten dem Anderen ein notdürftiges Lächeln: „Ich erwarte den Marschbefehl jeden Tag. Allerdings…“
Er unterbrach sich durch das Erscheinen eines Soldaten im vorgerückten Alter und passungenauem Stahlhelm.
Der Untergebene bezeugte militärische Haltung, sagte überlaut: „Nichts gefunden, Herr Oberleutnant. Allerdings ist im Quergebäude eine Tür zugesperrt.“
Schulze blickte ungelenk zu Egon Wagner.
„Kein Problem“, sagte Egon Wagner rasch. „Das ist mein eigenes kleines Reich. Nur ich habe Zutritt.“
„Dann machen wir Zwei uns auf den Weg“, wandte sich Schulze Egon Wagner zu, dem Soldat befahl er streng: „Alle Aufsitzen!“.
Schulze nahm Egon Wagner schulterumarmend ins Schlepptau, Grete reichte ihrem Mann eine wärmende Jacke. Vor der Tür wartete ein Tag mit vorteilhaft klassischen Wintereigenschaften, unterwegs verrichtete Egon Wagner Gebete, wenige Meter vor dem Eingang zur Werkstatt klatschte er einen Handballen an die Stirn.
Fast schreiend rief er: „Oh Gott, der Schlüssel. Er liegt in der Schlafstube. Bin gleich zurück.“
Egon Wagner eilte mit angewinkelten Armen über den Hof, Schulze zündete sich seelenruhig eine Zigarette an. Grete beobachtete das Geschehen am Küchenfenster. Minuten später betraten beide Männer die Werkstatt, das Tageslicht erhellte den Raum bis in die letzten Winkel. Schulzes Gesicht wirkte entspannt, der Matratze schenkte er mäßig Beachtung, alsbald widmete er sich den sorgsam aneinander gereihten Holzteilen auf der Werkbank.
„Was ist es, wenn es fertig wird?“, fragte er wissbegierig.
„Eine … Babywiege“, druckste Egon Wagner.
„Oh“, jubelte Schulze. „Grete lebt in froher Erwartung. Der Egon, was für ein Held. Traf wahrscheinlich gleich in der ersten Nacht ins Schwarze. Heil Hitler, in Frankreich kommt ein deutscher Soldat nicht aus der Übung.“
„Neinnein, noch steht nichts fest. Aber vielleicht… Grete weiß nichts von der Wiege. Ein Abschiedsgeschenk… Deshalb schließe ich die Tür ab.“
„Verstehe, eine Überraschung. Nährst außerdem in ihr nicht unnötig Hoffnungen und Sehnsüchte. Vielleicht klappt es erst nach dem Endsieg“, sagte Schulze im freundschaftlichen Ton, begutachtete einzelne Holzteile. „Hast Du alles beisammen?“
„Ich denke schon.“
Ein Geräusch ertönte, Egon Wagner zuckte zusammen. Nach einer Schrecksekunde gab Schulze Entwarnung, zur Geräuschursache erklärte er das Klappern der Fenster im schadhaften Holzkitt infolge einer Windböe.
„Räder täten der Überraschung gut“, sagte Schulze.
„Das stimmt. Zur Not geht es auch ohne sie.“
Schulze spitzte den Mund, taxierte mit einem Blick die Größe des Schrankes, sagte: „Die Pflicht ruft, Egon. Womöglich kriege ich das Polenpack am Fluss zu fassen. Die denken am Ende die Torheit, dass das Eis sie trägt.“
Egon Wagner begleitete Schulze bis zum Hofeingang, das Fahrzeug wartete mit laufendem Motor. Jeder Mann drückte die Hand des Anderen wie eine Kampfansage, mit dem Aufheulen des Lkw-Motors und der Wegfahrgeräusche setzte Egon Wagners Erlösung ein. Im Hof lehnte er minutenlang an der Wohnhauswand, erlag mit geschlossenen Augen dem Rausch im Körper. Im Kopf sprossen Bilder von den unerwartet heftigen Gefechten an der griechischen Metaxalinie, die er mit einem Durchschuss am Oberarm überstand.
Nach dem Abendessen begründete Egon Wagner den Gang in die Werkstatt mit notwendigen Reparaturen vielerlei Art. Seine Manteltaschen bargen Brot, ein fingerlanges Stück Rotwurst und eine Bierflasche, in der Werkstatt riegelte er die Tür ab, sämtliche Fenster zum Hof nagelte er mit Papiersäcken zu.
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