Mühsam versuchte Felice sich aufzurichten, ohne den verletzten Fuß zu belasten.
„So komme ich nie nach Hause“, dachte sie resigniert. „Vielleicht werde ich erfrieren.“ Sie schauderte. Schon jetzt war ihr ziemlich kalt und die Temperatur sank in den Oktobernächten bis an den Gefrierpunkt. Sie hatte nur einen dünnen Pullover an. Immerhin hatte sie vorgehabt, vor der Dämmerung zu Hause zu sein. Ihr Magen knurrte. Ungeschickt hüpfte sie vorwärts und holte sich dabei Schrammen und Kratzer. Nach wenigen Schritten fiel sie hin. Unwirsch rappelte sie sich wieder auf und hüpfte weiter. Nachdem sie das dritte Mal aufgestanden und wieder hingefallen war, konnte sie nicht mehr. „So geht das nicht“, dachte sie leicht panisch. „Kann mir jemand helfen… irgendjemand…“, fügte sie hoffnungslos hinzu. Wer ging schon um diese Uhrzeit in der Natur spazieren?
Inzwischen war rund und voll der Mond über dem Wald aufgegangen und tauchte alles in sein gespenstisches Licht. Schatten sprangen über den Boden. Felice saß zusammengekauert an einen Baum gelehnt und lauschte. Die Bäume knarrten, das Laub raschelte wie Geflüster. Tiere huschten immer wieder an ihr vorbei. Sie zitterte vor Kälte und sie hatte Hunger. Wie sollte sie wieder nach Hause kommen? Sie dachte an ihre Eltern. Was würden sie tun, wenn sie Bella holen wollten und ihre Tochter nicht da war? Und Andrea? Sie würde vielleicht die Polizei alarmieren, wenn Felice nicht nach Hause kam. Es konnte allerdings dauern, bis etwas passierte… So schnell schickte man keine Suchtrupps durch den Wald. Inzwischen war sie vielleicht erfroren. Sie schauderte.
Schweres Federgeraschel ließ Felice aus ihren Gedanken aufschrecken. Sie sah nach oben. Ein großer Vogel landete auf einem Ast des nächsten Baumes. Er schuhute traurig.
„Was mache ich hier eigentlich?“, dachte Felice. „Ich muss aufstehen und mich bewegen! Ich kann nicht hier rumsitzen und warten, dass irgendwer kommt oder ich zur Eisleiche erstarrt bin.“ Da sie es nicht schaffte aufzustehen, begann sie auf Händen und Knien vorwärts zu kriechen. Der Vogel beobachtete sie und flog ihr nach. Felice ignorierte die Schrammen, die sie sich zuzog und kroch immer weiter. Doch sie war erschöpft vom Tag und nach etwa 200 Metern, die ihr eher wie zwei Kilometer vorkamen, ließ sie sich fallen und blieb liegen. Der Vogel flatterte auf einen Ast in ihrer Nähe und sah stumm auf sie herab.
„Hilfe“, sagte Felice matt und dann schrie sie noch einmal lauter: „Hilfe!“ Mit geschlossenen Augen lag sie zusammengerollt am Boden und malte sich ihr Schicksal aus. Langsam glitt sie in einen Halbschlaf.
Sie erwachte jäh, als helles Licht durch ihre Lider drang. „Hilfe“, murmelte sie und öffnete die Augen. Wegen des grellen Lichts einer Taschenlampe, das ihr ins Gesicht schien, konnte sie nur ungenau die Gestalt eines Menschen erkennen, der vor ihr stand.
„Hallo? Können Sie mich hören?“, fragte eine Stimme, die ihr vage bekannt vorkam. Die Gestalt kniete sich zu ihr, die Taschenlampe wurde abgeblendet und Felice erkannte den Mann aus dem Nachbarhaus ihrer Eltern.
„Hallo“, erwiderte sie leise. „Wie haben Sie mich gefunden?“
„Ich war zufällig in der Nähe und hörte sie rufen“, sagte er sanft. „Sie sehen nicht gut aus. Können Sie laufen?“, fügte er hinzu. Vorsichtig versuchte Felice sich aufzurichten. Doch der Fremde schüttelte den Kopf. „Nein, so kommen wir nicht vorwärts. Warten Sie!“ Er schob seine Arme unter ihren Körper und hob sie einfach vom Boden hoch. Dann trug er sie mit federnden, kaum hörbaren Schritten durch den Wald. Felice hatte nicht mehr die Kraft verlegen zu sein. Sie war einfach nur dankbar, dass jemand sie gefunden hatte und sie nicht allein im Wald lag und fror.
Vielleicht war sie eingeschlafen, jedenfalls war das nächste, was sie mitbekam, dass sie auf ein Bett gelegt und eine Decke über sie gebreitet wurde. Das Bett war weich, ihr war wohlig warm und der Schmerz in ihrem Fuß war zu einem dumpfen Pochen abgeflaut. Am liebsten hätte sie einfach weiter geschlafen, aber sie dachte an Andrea, die sich bestimmt Sorgen machte. Sie öffnete die Augen und richtete sich auf. Sie befand sich in einem kleinen Raum, der einfach eingerichtet war: In einer Ecke gegenüber ihrem Bett stand ein schmaler Tisch mit einem Stuhl davor, eine Kommode war an der Wand platziert. Der Nachbar ihrer Eltern stand mit dem Rücken zu ihr an einem Waschbecken.
Er trocknete sich sorgfältig die Hände ab, bevor er sich ihr zuwandte. „Sie sind wach“, sagte er ruhig, nahm sich den Stuhl und setzte sich zu ihr ans Bett. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er und musterte sie. Felice hatte das unangenehme Gefühl, dass sein Blick durch ihren Körper hindurch bis in ihr Unterbewusstsein drang und sich ihm alle ihre Geheimnisse offenbarten. Verlegen sah sie weg und betrachtete stattdessen die Hände des Mannes. Sie waren groß, braungebrannt und sahen sehr gepflegt aus.
„Gut“, versuchte sie zu sagen, doch sie brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Sie räusperte sich und bemerkte, dass ihr Hals rau war und brannte. „Gut“, wiederholte sie.
„Ich bin Arzt.“ Der Mann lächelte. „Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. Es könnte sein, dass Sie ein wenig Fieber bekommen werden. Sie waren ganz schön ausgekühlt, als ich Sie gefunden habe.“ Er schwieg einen Moment und sah sie an. Dann fuhr er fort: „Wenn Sie sich kräftig genug fühlen, möchten Sie vielleicht duschen. Und ich würde gerne Ihren Fuß untersuchen. Er sieht ein wenig... lädiert aus.“ Seine Stimme hatte einen warmen, beruhigenden Klang.
Felice nickte. „Danke für Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Sie mich nicht gefunden hätten“, sagte sie leise. Das Reden strengte sie an und verursachte ihr Schmerzen im Hals. „Dann hätte es vielleicht ein anderer getan“, erwiderte der Mann, doch seine dunklen Augen blieben ernst und er lächelte nicht.
Felice wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, wer sie sonst hätte finden können. Es grenzte schon an ein Wunder, dass er sie gefunden hatte. Schließlich gingen nicht haufenweise Leute nach Einbruch der Dunkelheit im tiefsten Wald spazieren, noch dazu abseits der Wege. Aber das zu erklären kam ihr viel zu umständlich und anstrengend vor. Stattdessen fragte sie: „Meine Freundin wartet auf mich. Könnte ich mal kurz mit ihr telefonieren? Oder“, fügte sie halbherzig hinzu „komme ich von hier aus irgendwie nach Hause?“
„Ja, Sie können telefonieren. Nein, Sie kommen von hier aus nicht nach Hause, außer Sie haben Lust auf einen mehrstündigen Fußmarsch. Außerdem sind Sie zu schwach. Ich werde Sie morgen nach Hause bringen, wenn Ihr Zustand es erlaubt.“ Ein scharfer Unterton lag nun in seiner sanften Stimme und in seinen Augen flackerte es. Felice war ein wenig erschrocken über seine Reaktion. Eigentlich musste er doch froh sein über jede Gelegenheit, sie loszuwerden. Der Mann verschwand und erschien fast sofort wieder mit einem Telefon in der Hand. Er reichte es Felice und ließ sie dann allein, damit sie ungestört reden konnte.
Es hatte kaum einmal getutet, als Andrea abnahm.
„Andrea Siebenlist.“
„Hallo, ich bin´s“, antwortete Felice.
„Oh Gott sei Dank, Felice! Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht! Wo steckst du denn? Ist was passiert?“, tönte es ihr entgegen.
„Äh, ich habe mich verlaufen. Mein Nachbar hat mich aufgegabelt und da bin ich jetzt“, antwortete sie. Sie musste sich mehrmals räuspern und es strengte sie an, in halbwegs verständlicher Lautstärke zu sprechen. „Dein Nachbar. Heißt das, du bist zu Hause? Hat er auch einen Namen? Und wie hörst du dich überhaupt an?“, fragte Andrea misstrauisch.
„Ich hatte noch keine Gelegenheit ihn zu fragen.“ Felice runzelte die Stirn. „Nein, ich bin nicht zu Hause. Er scheint mehrere Wohnungen zu haben. Er ist Arzt. Du, ich erzähl´s dir, wenn wir uns sehen. Ich wollte nur kurz Bescheid sagen.“ Das Telefonat und Andreas Aufregung strengten sie an.
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