„Hallo“, sagte Eric, der sich inzwischen von der Frau gelöst hatte. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass Felice ihn überrascht hatte. „Sabine wollte gerade gehen...“, meinte er betreten.
„Ja, das sollte sie auch besser“, antwortete Felice und ihre Augen blitzten zu der Blondine. „Und ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf!“, fügte sie hinzu, als die Frau umständlich begann, ihre Sachen zusammenzusuchen. „Und eigentlich kannst du gleich mitgehen“, sagte sie und warf Eric einen giftigen Blick zu. Sie war so wütend, dass sie das Gefühl hatte, sie müsste im nächsten Moment explodieren. Die Frau verließ den Raum und Felice ging ihr nach, um die Wohnungstür zu schließen, dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Eric räumte die Flaschen zusammen.
„Wie bist du reingekommen?“, blaffte sie ihn an.
„Deine Freundin“, sagte er leise, „Andrea. Sie hat mir den Schlüssel gegeben.“ Er hielt ihn, wie zum Beweis, in Luft die und ließ ihn dann zurück auf den Tisch fallen. „Ich habe die Blumen gegossen“, meinte er und zeigte auf ein paar Pflanzen.
Felice lehnte mit verschränkten Armen in der Tür. „Und? Habt ihr euch amüsiert?“, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Es fiel ihr schwer nicht loszuschreien.
„Nein...sorry, wegen Sabine...ich...wir...es war...also, ich muss mit dir reden“, brachte er heraus.
„Tatsächlich“, sagte sie mit zusammengepressten Lippen. Noch immer stand sie bewegungslos in der Tür. Es war eine Weile still. „Also, was ist? Brauchst du wieder Geld?“, brach es aus ihr heraus, als er nichts sagte.
„Nein, es tut mir L…“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn.
„Du bekommst auch keins. Und weißt du was? Du bekommst überhaupt kein Geld mehr und sonst auch nichts!“ Ihre Stimme wurde immer lauter. Er versuchte etwas zu sagen, aber sie überfuhr ihn: „Verschwinde einfach aus meinem Leben! Hau ab und komm nicht wieder zurück! Ich habe deine scheiß Entschuldigungen satt. Ich habe echt was Besseres zu tun, als mich immer um deine bekloppten Probleme zu kümmern! Ruinier dich doch! Ich werde dich nicht mehr daran hindern!“ Sie holte tief Luft und er nutzte die Gelegenheit, um zu sagen: „Sabine war nur ein Ausrutscher...“
„Sabine war nur ein Ausrutscher“, äffte sie ihn nach und schnaubte dabei vor Wut. „Und Jessica und Kati und Cindy und Janet und keine Ahnung wer noch alles waren auch nur Ausrutscher!“, schrie sie. Felice nahm ein Kissen vom Sofa und warf es ihm an den Kopf. „Alles nur ein paar kleine Ausrutscher!“ Sie nahm ein anderes Kissen und schlug auf ihn ein. „Hau ab!“, schrie sie. „Hau endlich ab!“
Eric hielt sich schützend die Arme über den Kopf und murmelte etwas wie: „Immer mit der Ruhe.“ Dann sagte er lauter: „Ist ja gut! Ich gehe ja schon!“ Aber in Felice kochte es so, dass sie nicht aufhören konnte, auf ihn einzuschlagen. Erst als er seine Jacke nahm und sich zur Tür hinaus rettete, ließ sie von ihm ab.
„Und lass es dir ja nicht einfallen wiederzukommen oder anzurufen!“, rief sie ihm nach, bevor die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Felice ließ sich erschöpft auf einen Sessel fallen. Tränen schossen ihr in die Augen. Von Männern, schwor sie sich, hatte sie erst mal genug.
Im Nachhinein wusste Felice nicht mehr, wie sie die folgenden drei Wochen und die Prüfung hinter sich gebracht hatte. Ihre Klausurnoten waren ganz gut ausgefallen, die Grundschule erteilte ihr eine Absage.
Sie genoss die freie Zeit, die sie hatte, wenn sie nicht gerade in der Buchhandlung half und war viel draußen in der Natur. Und als ihre Eltern eine Weile ohne Bella wegfahren wollten, nahm sie den Hund zu sich. Die Oktobertage blieben warm und trocken und so verabredete sich Felice für den letzten Samstag des Monats mit ihrer Freundin Andrea. Sie wollten ein Stück von der Stadt entfernt einen Rundwanderweg ausprobieren, den sie beide noch nicht kannten.
Vorsorglich ließ sie an dem Tag ihr Handy zu Hause, um sich nicht durch irgendwelche Anrufer, zum Beispiel ihren Chef - der es auch fertig brächte, sie von einem Waldspaziergang abzukommandieren - stören zu lassen. Sie nahm Bella und fuhr mit dem Zug zu dem Dorf, wo der Rundweg begann. Andrea wartete schon auf sie. Es war ein schöner Tag, der noch viel von der Wärme des vergangenen Sommers in sich trug und so machten sie sich gut gelaunt auf den Weg. Die Bäume um sie her leuchteten golden im Sonnenlicht, am Wegrand wuchsen rote Beeren und Vogelscharen waren am Himmel zu sehen. Nach den Prüfungen und der Trennung von Eric fühlte sich Felice federleicht. Sie lachte und alberte mit Andrea, die auch glänzender Laune war. Gegen Mittag machten sie auf einer kleinen Bank Rast, aßen ihr mitgebrachtes Proviant und plauderten. Über die Hälfte des Weges war geschafft und so gingen sie erst am späteren Nachmittag weiter. Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie wieder aufgebrochen waren, kamen sie zu einer Weggabelung, die auf der Wanderkarte nicht eingezeichnet war.
„Ich würde vorschlagen, wir gehen nach links“, sagte Felice, da sie keinen Wegweiser entdecken konnten.
„Der Sonne nach zu schließen müssten wir nach rechts“, entgegnete Andrea mit einem Blick zum Himmel.
„Du mit deinen Himmelskenntnissen, da kommen wir am Ende noch am Nordpol raus“, spöttelte Felice. Sie selbst nicht sagen können, warum, aber der linke Weg übte eine starke Anziehung auf sie aus. Halb unbewusst machte sie einen Schritt in seine Richtung. Empört sah Andrea sie an. „Okay, mal sehen, wer zuerst zu Hause ist“, sagte sie herausfordernd.
„Gut“ erwiderte Felice lachend „aber ich habe Bella.“
„Ich habe die Hundekuchen“, versetzte Andrea feixend. „Komm Bella!“, fügte sie an den Hund gewandt hinzu und machte sich mit der Hundekuchentüte raschelnd auf den Weg. Bella lief ihr hinterher.
„Ich bin trotzdem zuerst zu Hause“, rief Felice ihr vergnügt nach. Sie macht sich sofort auf den Weg, immer dem linken Pfad nach. Wenige Minuten später hatte sie Andrea schon fast vergessen. Leise vor sich hin summend überquerte sie von Stein zu Stein springend einen Bach, der ihren Weg kreuzte. Sanft wogten die Baumwipfel über ihrem Kopf. Die Vögel sangen und alles war friedlich. Manchmal tauchten Baumstämme oder sperrige Äste vor ihr auf, die ihr den Weg versperrten. Dann kletterte und balancierte sie darüber, wie sie es als junges Mädchen getan hatte. Einmal beobachtete sie ein Eichhörnchen, das in einem Busch flink von Ast zu Ast sprang, um dann laut schimpfend den glatten Stamm eines Baumes hinaufzurennen. Felice lachte ihm hinterher. Das Ganze erschien ihr fast wie ein Abenteuer. Es kam ihr merkwürdig vor, dass die Zeit verging, ohne dass sie andere Wege kreuzte oder der Wald sich lichtete. Aber etwas trieb sie an weiterzugehen und so schob sie die Zweifel beiseite.
Der Nachmittag ging allmählich zur Neige und der Pfad, dem Felice folgte, wurde immer schmaler, bis er sich schließlich ganz auflöste. Als sie merkte, dass sie ihn verloren hatte, war es unter den Bäumen schon ziemlich schattig. Ratlos lief sie ein Stück zurück, doch sie war sich nicht sicher, ob sie richtig ging und im Dämmerlicht konnte sie nicht weit sehen.
„Hurra, verloren in der Wildnis!“, dachte sie sarkastisch und musste unwillkürlich grinsen. Doch als sie den Pfad nach mehreren Minuten noch immer nicht gefunden hatte, war ihr ganz und gar nicht mehr zum Lachen zu Mute. Nach dem warmen Tag war es nun unangenehm kühl und der Wald wurde ihr langsam unheimlich. Da sie wenig sehen konnte, schienen alle Geräusche umso deutlicher zu werden. Eine leichte Brise kam auf und ließ Felice frösteln. Die Bäume stöhnten leise, wenn der Wind durch die Kronen strich. Es wurde dunkler und der Wald erwachte zum Leben. Fledermäuse flatterten über Felice hinweg. Es raschelte und knackte, und es gab noch andere Geräusche, die sie nicht zuordnen konnte. „Wenn ich immer in eine Richtung gehe, muss ich doch irgendwo rauskommen“, murmelte sie und stapfte aufs Geratewohl los. Um sich Mut zu machen, trat sie fester auf als nötig. Plötzlich brach sie mit dem linken Fuß durch ein paar Zweige in ein Erdloch und knickte um. Sie stürzte. „Aua, aua, aua“, jammerte sie halblaut und Tränen schossen ihr in die Augen. Stechende Schmerzen durchzuckten ihren Fuß. Sie versuchte ihn aus dem Loch zu ziehen, doch das ließ sie schnell wieder bleiben. So gut es ging, setzte sie sich auf und betrachtete den entstandenen Schaden. Ihre Hände waren von dem Sturz aufgeschürft und ihre Jeans am Knie zerrissen. Während sie versuchte die Äste von dem Loch, in welchem ihr Fuß steckte, wegzuziehen, schimpfte sie leise vor sich hin. Schließlich gelang es ihr, den Fuß zu befreien. Vorsichtig zog sie ihn aus dem Loch und betastete ihn. Missmutig dachte sie an ihr Handy, das sicher verwahrt zu Hause auf dem Küchentisch lag, als der Fuß zu stechen begann. „Hilfe“, rief sie kläglich. Aber natürlich würde niemand sie hören. „Hilfe“, versuchte sie es noch einmal lauter. Doch der Wald verschluckte ihre Rufe. Nur die schweigende Dunkelheit dröhnte ihr entgegen.
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