Pünktlich um drei Uhr nachmittags hörte man Stimmen. Frau Strasser begrüßte einen Mann, der auf einer Vespa angerollt gekommen war. Sie sperrte die Gartentür auf, und gemeinsam gingen die beiden in den Garten. Alles verlief nach Plan. Nun würde Frau Strasser ins Gartenhaus gehen, unter dem Vorwand, etwas zu trinken zu holen. Damit wäre sie aus der Schusslinie, statt ihrer würden die Beamten aus dem Haus heraus stürmen, den Täter festnehmen und Ende.
Soweit der Plan.
Allein, er scheiterte an einem Erdwespennest.
Besagte Erdwespen lebten mehr oder weniger friedlich in einem Mauseloch unter einem weit ausladenden Perückenstrauch. Und genau dort hatte sich der Bonsai versteckt. Voll Enthusiasmus lauerte er dort, einen guten Meter vom Einflugort der kleinen schwarz-gelben Schwirrer entfernt. Er hatte sie nicht bemerkt, und sie fühlten sich durch den seltsamen kleinen Mann nicht gestört, da er nicht in ihrer Flugbahn kauerte, sondern weiter links.
Was allerdings weder Strasser noch den Wespen klar war, das war die Tatsache, dass der Mäusetunnel vom Loch weg nur wenige Zentimeter unter der Erdoberfläche direkt zu Strassers Versteck führte. Und außerdem die Tatsache, dass selbst ein Bonsai in der Lage war, einen solchen Tunnel zum Einsturz zu bringen, wenn er voll Nervosität mit dem Fuß scharrte.
Es kam, wie es kommen musste. Strasser scharrte, lautlos zwar, doch effektiv, und der Tunnel fiel in sich zusammen, die trockene Erde bröselte auf die erbosten Wespen, und diese sammelten sich ohne zu zögern zur Formation Kampfgeschwader Schwarz-gelb . Strasser hielt sich tapfer. Zehnmal wurde er mindestens gestochen, ohne dass ein Laut über seine Lippen gekommen wäre. Doch dann hielt er es nicht mehr aus. Überall um ihn herum schwirrte und summte es immer wütender, ein verzweifeltes Stöhnen, ein klagender, vergehender Laut entwich den gequält zusammengebissenen Lippen – und dann sprang er auf und rannte davon, gefolgt von dem zum Äußersten entschlossenen Kampfgeschwader Schwarz-gelb .
Die Reaktionen erfolgten ebenso blitzschnell wie unterschiedlich.
Müller zuckte zusammen, fluchte unflätig los und packte die völlig überraschte Frau Strasser, die ihrerseits auch noch von Angst um ihren Gatten gepackt worden war, welche spontan abgelöst wurde von Angst ums eigene Leben, als sie plötzlich spürte, wie etwas Kaltes an ihren Hals gedrückt wurde, das sich bedrohlich einem Messer ähnelnd anfühlte. Gleichzeitig wurde sie mit einem Arm fest umschlungen, aber keineswegs zärtlich und liebevoll, wie es der Bonsai zu tun pflegte, wenn sie sich denn einmal mehr als zwischen Tür und Angel begegneten, sondern vielmehr hart und ruckartig, was sie dazu veranlasste, zur Salzsäule zu erstarren.
Die Beamten stürmten aus ihren Verstecken, aber nur, um ebenfalls zu erstarren, denn Müller brüllte sie an: »Keinen Schritt weiter, oder die Frau ist tot!«
Julia bewegte sich ganz langsam und vorsichtig. Deeskalation. Jetzt keinen Fehler machen. Sie hob die Hände. »Ich bin unbewaffnet, sehen Sie?«
Die Dienstwaffe steckte nicht im Halfter. Vielmehr drückte sie fest und kühl in Julias Lendenwirbel. Als hätte sie es geahnt …
»Bleiben Sie sofort stehen! Ich stech die ab, ich schwör's! Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Man konnte dem Irren ansehen, wie nervös er war, wie kurz davor durchzudrehen.
Julia blieb stehen und ging mit dem Oberkörper ein wenig zurück, um ihm anzudeuten, dass sie nichts unternehmen würde. Sie fühlte sich ratlos, hilflos. Wenn sie oder irgendjemand sonst schießen würde, dann war Frau Strasser doppelt gefährdet. Einmal durch die Kugel, und dann noch durch das Messer. Julias Hirn ratterte, eingedickt von der Hitze, verzweifelt vor sich hin, ohne dass sie eine Lösung für das Problem fand.
Reden. Sie musste mit ihm reden. Ihn zermürben.
»Hören Sie, das bringt doch nichts. Warum wollen Sie Frau Strasser denn töten? Lassen Sie sie gehen. Wir können doch über alles reden. Lassen Sie Frau Strasser gehen, und wir verhandeln. Sie könnten sie gehen lassen und mich stattdessen nehmen. Ich komme zu Ihnen, und Sie machen einfach Frauentausch. Wie wäre es damit?«
Er schaute gehetzt nach allen Seiten.
»Schnauze! Lassen Sie das! Gehen Sie weg! Alle!«
»Und dann? Lassen Sie Frau Strasser dann ziehen?«
Müller, falls er denn überhaupt so hieß, schüttelte den Kopf. »Nein. Sie bleibt bei mir. Ich nehme sie mit, als Geisel. Ich verlange ein Auto. Ein schnelles Auto. Vollgetankt. Und einhundert Grundstücke für meine einhundert Festspielhäuser. Und der Hörl soll herkommen.«
Julia war verblüfft. Der Mann war noch viel irrer als vermutet.
»Der Hörl?«
Zeit schinden, bis sie einen Plan hatte.
»Welcher Hörl?«
Wieder blickte er sich gehetzt um.
»Welcher Hörl denn wohl. Der Hörl halt. Der mit den Hunden. Und den Wagnern. Die vor meinen Festspielhäusern stehen sollen. Vor jedem einer. Aber nicht die, die dirigieren. Das sind nur Platzhalter, bis er die anderen gemacht hat.«
»Welche anderen denn?«
»Na die, die sich verbeugen. Wie jeder Künstler, wenn er fertig ist. Und der Hörl wird fertig sein. Das wird seine letzte Kunst sein. Einhundert Wagner, die sich verbeugen. Vor meiner Kunst. Vor meinen Festspielhäusern. Vor jedem einer. So wird das werden.«
Komplett irr. Sie hatten es mit einem gemeingefährlichen, komplett irrsinnigen Serienkiller zu tun, der die Frau des Staatsanwalts als Geisel hatte. Ganz klasse. Schlimmer hätte es kaum kommen können. Julia spürte, wie ihr kalter Schweiß in den Nacken rann. Sie hatte verloren. Diesmal würde sie den Kürzeren ziehen. Statt Verhaftung nur Chaos und Gewalt. Strasser würde seine Frau verlieren, und sie alle miteinander ihren Job. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Dreifach gequirlte Hühnerkacke!
Energisch kämpfte sie gegen die aufsteigende Panik an. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Einen Plan ausarbeiten. Frau Strasser retten. Den Mistkerl drankriegen.
Fieberhaft rasten die Gedanken.
Doch plötzlich …
Sein Kopf ruckte nach links, er schrie noch einmal: »Stehenbleiben! Halt! Stopp! Sonst passiert was!«
Doch er blieb nicht stehen, der Bonsai auf der Flucht vor dem Geschwader Schwarz-gelb . Er rannte genau auf seine Frau zu. Ohne den Geiselnehmer bewusst wahrzunehmen, suchte er dort Schutz, wo ihn immer Zuspruch und Trost erwarteten, wenn er diese benötigte.
»Hiiiiiiiilde!«, schrie er in verzweifelter Not, zerstochen, rot getupft, verschwollen. Ein Zombie auf der Flucht.
Erkannte im letzten Moment die Gefahr, in die er seine Hilde brachte, und schwenkte kreischend ab in Richtung Gartentür. Das Geschwader Schwarz-gelb wiederum bremste irritiert ab, orientierte sich um und stürzte sich wütend auf sein neues Opfer, nämlich die weibliche Salzsäule und deren männlichen Umarmer.
Diesem Angriff standzuhalten hätte mehr Willenskraft erfordert als Müller oder Nichtmüller aufbringen konnte. Und so ließ er denn nach einem kurzen Moment der Standhaftigkeit die einer Ohnmacht nahen Hilde los und wollte Strasser hinterher, in kopfloser Flucht vor Geschwader Schwarz-gelb .
Das allerdings wurde verhindert durch eine überaus erleichterte Kommissarin, die ihre Waffe aus dem Hosenbund zog, einen Warnruf abgab, um der Pflicht Genüge zu tun, und dem trotzdem losrennenden Irren dann kurzerhand in den rechten Fuß schoss.
Den Rest erledigten die wütenden Wespen.
***
Wenig später war der Mörder verhaftet, nicht ohne zuvor von dem eiligst angekommenen Doktor Kollrab verarztet worden zu sein. Der Schuss in den Fuß war nur ein Streifschuss gewesen, der schnell verbunden war. 34 Wespenstiche wurden akribisch gezählt und der Kreislauf des Verhafteten überwacht.
Die Wespen hingegen waren von Frau Strasser gezähmt worden, die aus dem Gartenhaus eine Packung ihrer heißgeliebten Räucherstäbchen holte und gleich alle auf einmal anzündete. Das jagte den Rest des Geschwaders auf und davon.
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