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Als sie am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe schon in der Dienststelle erschien, stellte sie fest, dass andere Leute auch nicht untätig gewesen waren in dieser Nacht. Und dass diese Tätigkeiten nicht minder ergebnislos verlaufen waren als ihr Abend mit Strasser. Die Rechtsmedizin Erlangen hatte ihre Berichte geschickt, und Doktor Kollrab hatte Recht gehabt. In beiden Fällen. Auch fanden sich an den Leichen keinerlei Spuren, die auf den Täter hätten schließen lassen können. Abgesehen von der Tatsache, dass der Kerl wohl ziemlich kräftig war, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mann, konnten sie keine Rückschlüsse ziehen. Bruckner war bereits einen Tag vergraben gewesen, als Petra Niklas ihn gefunden hatte. Und di Lorenzo, das zweite Opfer, war einen Tag nach Bruckner gemeuchelt worden. Bei der Vorstellung, dass auch der heutige Tag eine Leiche bringen würde, drehte sich Julias Magen um.
Die SpuSi hatte ihre Untersuchungen in beiden Fällen abgeschlossen, es war wie verhext: Der Täter hatte offenbar viel Sorgfalt darauf verwendet, alle Spuren zu verwischen. Auch im Iwalewahaus war nichts zu finden. Entweder hatte einer der Besucher einen Schlüssel entwendet, was durchaus denkbar war, weil seit einiger Zeit schon der Reserveschlüssel verschwunden war, der eigentlich im Kopf einer Holzstatue versteckt lag. Allerdings war weder der Verlust gemeldet noch das Schließsystem erneuert worden, weil man wohl davon ausgegangen war, dass der besagte Schlüssel einfach verlegt worden wäre und sich mit Sicherheit wieder finden würde, sobald die Schlösser erneuert wären. Oder – und das war durchaus auch nicht auszuschließen, sogar noch viel wahrscheinlicher – der Dieb und Täter war ein Mitarbeiter. Vielleicht auch ein Ehemaliger. Julia seufzte. Sie würden umfangreiche Vernehmungen durchführen müssen und eine Liste aller Ehemaligen überprüfen. Jeder von denen musste gewusst haben, wo der Reserveschlüssel lag.
Auch die Untersuchung von Bruckners Handy ergab nichts Vernünftiges. Der geheimnisvolle Täter war zwar offensichtlich irr, aber auch genial.
Licht ins Dunkel sollte ausgerechnet von dem kommen, auf den Julia heute gerne verzichtet hätte: Staatsanwalt Strasser kam kurz nach halb acht im Stechschritt herein – und überfiel Julia und Stefan mit einer Neuigkeit, die wie eine Bombe einschlug.
»Jetzt haben wir ihn«, schnarrte er, diesmal gar nicht wütend, sondern eher aufgeregt und hibbelig wie ein Kind an Weihnachten.
»Wir kriegen ihn. Stellen Sie sich vor, was meine Frau mir gestern erzählt hat, als ich nach Hause kam: Dieser Tage hätte jemand bei uns angerufen, weil er unser Wochenendgrundstück kaufen möchte, draußen in Destuben. Es gehört meiner Frau, sie hat es von ihrem Großvater geerbt. Sie hat gleich gesagt, dass sie nicht verkaufen möchte, aber der Kerl wollte sich nicht abwimmeln lassen. Er hat wohl zu ihr gesagt, sie solle sich das gut überlegen, er würde sich wieder melden. Sie hat mir das gar nicht erzählt, weil wir uns nur zwischen Tür und Angel gesehen haben in dieser Woche. Sie wissen ja, sie ist ehrenamtlich engagiert und gerade schwer eingespannt, weil das Sommernachtsfest in der Eremitage bevorsteht. Jedenfalls muss er das sein! Sie kommt in einer halben Stunde hierher, und dann werden wir eine Falle ausarbeiten, die unweigerlich zuschnappen wird, sobald er angebissen hat! Wie gut, dass der Kurier noch keine Details veröffentlicht hat! Und wie gut, dass nur meine Frau im Telefonbuch steht. Offenbar weiß der Kerl nicht, wo ich arbeite. Sonst hätte er nicht angerufen, da bin ich mir sicher.«
Strasser schwebte auf Wolke Sieben. Die Aussicht auf eine bevorstehende Verhaftung, von ihm ins Rollen gebracht, und auf die unweigerlich folgenden Schlagzeilen im Kurier versetzte ihn in Hochstimmung. Er sah sich schon wegbefördert nach Nürnberg, völlig außer Acht lassend, dass seine Frau nach langen Jahren im Exil hier ihre Wurzeln wiederentdeckt hatte und mit Sicherheit nicht mehr wegziehen würde.
Tatsächlich hatten sich die Lokalredakteure zurückgehalten, was Informationen über eventuelle Mordmotive betraf. Ein riskantes Spiel angesichts der Vermutung, dass weitere Opfer folgen könnten, aber so wurde der Täter nicht kopfscheu gemacht.
Weder Julia noch Stefan war es wohl bei dem Gedanken, Strassers Frau als Köder zu benutzen. Aber Strasser war nicht mehr davon abzubringen, und wenn sie ehrlich waren, hatten sie keine Alternativen zu seinem Plan. Schließlich stimmten sie zu, und als Frau Strasser erschien – die übrigens sowohl optisch als auch akustisch perfekt zum Staatsanwalt passte –, hielten sie eine taktische Besprechung zu Viert ab.
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Als der Anruf tatsächlich kam, klopfte Frau Strassers Herz bis zum Hals, aber sie spielte tapfer ihre Rolle.
»Grüß Gott, Frau Strasser. Ich rufe nochmal an wegen Ihres Grundstücks am Panzerteichweg. Haben Sie es sich überlegt? Ich würde gut zahlen und daraus etwas wirklich Eindrucksvolles machen.«
»Grüß Gott, Herr – wie war doch gleich Ihr Name?«
»Müller. Erwin Müller, Frau Strasser.«
Erwin Müller. Wie geistreich. Wer's glaubt.
»Herr Müller, ich wäre grundsätzlich einverstanden. Aber ich würde gerne zuvor mit Ihnen gemeinsam das Grundstück besichtigen, Ihnen alles ganz genau zeigen. Nicht dass Sie die Katze im Sack kaufen.«
Leises Lachen drang aus der Leitung.
»Das ist nett von Ihnen, Frau Strasser. Aber das braucht es eigentlich nicht. Ich habe schon eine konkrete Vorstellung sowohl von Ihrem Grundstück als auch von der Verwendung, der ich es zuführen möchte.«
Du liebe Güte, was für ein gestelztes Geschwafel!
»Was haben Sie denn vor damit?«
»Das, meine Liebe, würde Ihre Vorstellungskraft sprengen. Ich werde darauf ein Festspielhaus errichten, sozusagen eine Replik des Grünen Hügels. Die Erste von Hundert. Der Meister selbst wäre begeistert von dieser Idee gewesen! Hörl mit seinen Hunden und Wagnern wird blass werden vor Neid. Und Sie, liebe Frau Strasser, Sie werden Premierenkarten für jede Vorstellung in diesem Festspielhaus bekommen, weil Sie der wirklich großen Kunst den Weg bereitet haben.«
Sie verdrehte die Augen, bevor sie weiter redete. Gerade noch rechtzeitig hatte sie die taktischen Zeichen gesehen. Sie musste das Gespräch hinziehen, damit die Beamten den Standort des Irren ermitteln konnten.
»Herr Müller, ich würde zu gerne sehen, was und wie Sie das geplant haben. Fahren wir doch gemeinsam zu dem Grundstück, und Sie erklären mir vor Ort alles.«
»Nur zu gerne, meine Liebe. Nur zu gern. Wann könnten Sie denn?«
»Warten Sie – ich muss erst meinen Terminkalender holen … einen Moment noch … ach, das ist mir aber unangenehm, ich habe ihn ja gar nicht hier unten, der liegt im ersten Stock … nur noch einen kleinen Augenblick, Herr Müller …«
Ein hochgereckter Daumen von dem Beamten am Tisch, und Frau Strasser schlug eine Uhrzeit vor, die sofort von ihrem Anrufer bestätigt wurde.
Erleichtert verabschiedete sie sich und legte auf.
»So. Und jetzt also ab in den Panzerteichweg, richtig? Du liebe Zeit, ich glaube, ich brauche erst einmal eine Baldriantablette! Oder besser ein Likörchen?«
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Julia und Stefan waren persönlich bei dem Einsatzkommando dabei. Sie wollten sichergehen, dass nichts schiefging. Auch Staatsanwalt Strasser himself lauerte im Gebüsch. Der große Garten am Waldrand war quasi umstellt, und sowohl im Gartenhaus als auch hinter den großen Eibenkugeln, von denen jeweils eine in jeder Ecke des Gartens stand, hatten sich weitere Uniformierte versteckt. Das Gelände war vorab gründlich durchkämmt worden, um sicherzugehen, dass der Mörder noch nicht hier war. Und jetzt warteten sie alle, es war die Ruhe vor dem Sturm. Zu gerne hätten sie ihn bereits vorab geschnappt, aber sein Handy war ausgeschaltet und nicht zu orten.
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