Es ist das erste Mal, dass ich eine Beerdigung organisieren musste, es ist überhaupt meine erste Beerdigung. Ich war noch nie an einer Beerdigung. Als mein Grossvater starb, durfte ich nicht zum Friedhof. Ich hab noch nie zuvor einen Sarg in die Erde hinabgleiten sehen. Das erste Mal, dass ich so nah am Toten bin, dass ich als letzte die Erde auf ihn fallen lasse. Es ist ein komisches Gefühl, ehrfürchtig. Ich hab keine einzige Träne vergossen, ich bin nicht mal traurig. Ich akzeptiere einfach, dass ich nie ein gutes Verhältnis zu meinem Vater hatte, dass ich im Grunde keinen Vater hatte. Jetzt damit zu hadern, ist eh zu spät. Aber ich bin froh, haben wir ihn trotz allem, nach bestem Wissen und Gewissen beerdigt.
Wir fahren dann in die Kirche zur Messe. Die muslimischen Freunde verabschieden sich, ich lade sie noch auf den Schmaus ein, aber sie lehnen ab. Die Messe ist schön, ich bin zufrieden. Trotz aller Differenzen haben wir das Beste gegeben, wir haben uns bemüht, seinen Wünschen zu entsprechen. Der Stachel, dass seine Familie zu faul ist, daran teilzunehmen, der sitzt tief. Der Leichenschmaus ist von seinen Freunden wirklich sehr gut organisiert, Mario, das Hivaseesche Mädchen für alles, ist da, um zu servieren und macht es wirklich toll. Ich verteile alles was übrigbleibt unter ihnen. Ich bin von ihrer Unterstützung gerührt. Bei uns ist es üblich, dass man entweder Blumen oder Geld gibt. Die meisten Freunde haben Blumen ans Grab gebracht. Wenige Freunde, meine Tante und Mutter haben uns Geld gegeben. Von seinen Verwandten nichts. Weder Blumen noch Geld. Ich bin nicht mal überrascht.
Seine Schwester erkundigt sich bei Livia nach der Beerdigung, lässt fallen, dass es schade ist, dass er hier beerdigt wurde und nicht unten. Sie möchte gerne Kontakt zu mir. Ihre Tochter schickt mir über Social Media eine Nachricht, ob sie meine Telefonnummer haben dürfte, meine Patentante, ihre Mutter und Schwester meines Vaters, hätte gerne Kontakt zu mir. Ich überlege, ob ich ihr meine Nummer geben soll, damit ich ihr ordentlich meine Meinung sagen kann, was für eine beschissene und geldgierige Schwester sie ist und ich hoffe, dass sie in der Hölle verrottet, aber ich überleg es mir doch anders und lass die Nachricht unbeantwortet.
Kaum ist die Beerdigung durch, falle ich wieder in mein Loch. Es geht mir überhaupt nicht besser, ich hatte einfach Stress. Ich hatte wieder mal eine Fluchtmöglichkeit, jetzt ist sie weg und alles ist wieder beim Alten.
Wie sich herausstellte, wollte er das Land seiner Schwester verkaufen. Natürlich hätte er nie Geld gesehen, sie aber das Land erhalten. Es war schon alles in die Wege geleitet worden, es fehlte nur noch seine Unterschrift. Tja, nun gehört das Land doch mir. Sobald ich mal nach Orenda gehe, werde ich die Zigeuner fragen, ob einer das Land haben will und es verschenken, von seiner Familie wird es niemand bekommen, nicht mal für Milliarden.
Auf den Dating-Apps bin ich nun zum fünften oder sechsten Mal seit unserer „Trennung“, hab den Überblick verloren. In manchen Momenten rede ich mir ein, das Leben muss weitergehen, ich muss andere Männer kennenlernen, Dates haben, bevor ich Jack Hand in Hand mit einer anderen sehe. Ich muss auch wieder aus diesem Loch herausfinden, also lade ich alle runter, melde mich an, wische lustlos. Sobald mich dann einer anschreibt, stelle ich fest, ich bin nicht soweit. Ich hab keine Lust. Ich hab einfach keinen Bock, mit anderen Männern zu schreiben, sie zu treffen. Dann lösch ich alles wieder, nur um ein paar Tage später wieder von vorne anzufangen.
Mein Kopf sagt, du musst weitermachen. Also noch mal alles runterladen, mich zwingen zu schreiben, witzig sein, interessiert wirken, während es mir das Herz zerreisst und ich dabei hemmungslos weine. Ich mach Dates ab, zu denen ich dann nicht hingehe, wenn es soweit ist. Dann lösche ich wieder alles, zurück auf Anfang. Schön im Kreis.
Ich schäme mich bei dem Gedanken, wenn Jack wüsste, dass ich auf diesen Apps bin, er hat sowas nicht nötig und macht sich über seine Freunde lustig, die drauf sind. Ich lösche alles wieder. Nur, um mich ein paar Tage später wieder anzumelden, weil ich weitermachen muss. Ich zwinge mich. Nicht aufgeben, es muss weitergehen. Also dranbleiben.
Heute hab ich wieder ein Date. Wie er heisst, was er macht, was er sucht, weiss ich nicht. Müsste ich alles nachlesen. Ich merk mir nichts von den Typen, weil es mich nicht interessiert. Aber sollte es schon nachlesen bevor ich dort auftauche, sonst wird es peinlich. Will ich überhaupt hingehen? Will ich jetzt duschen, mich schminken, schön anziehen, in die Stadt fahren, lächeln, Fragen stellen obwohl mich die Antworten gar nicht interessieren, belangloses Zeug von mir erzählen, mit den Wimpern klimpern, interessiert wirken? So tun, als wär ich eine fröhliche, aufgestellte, witzige, charmante Frau während ich einfach nur weinen will? Nein, auch diesmal hab ich keine Lust. Die wievielte Absage ist das jetzt? Auch da hab ich den Überblick verloren.
November 2014
Die Beerdigung ist durch, ich bin wieder in meiner Hölle, bestehend aus Nichts. Tagsüber starr ich weiterhin den Chat an. Ich schreibe mit niemand, ich starr einfach rein, stundenlang. Der Einzige, der mir hin und wieder Ablenkung bietet, ist Steve. Die Gespräche mit ihm über Gott und die Welt lenken mich ab, er ist aber tagsüber selten da. Er ist chatsüchtig und würde sich auch gerne von dieser Sucht befreien und auch ich suche einen Weg, dem Ganzen wegzubleiben. Wir schliessen einen Pakt. Wir vereinbaren, wann und wie lange wir online sind, damit wir das kontrollieren können. Der Verlierer zahlt einen Kaffee.
Ich bin Projektleiterin und wenn ich mich im Büro nicht als Solche betätigen kann, dann wenigstens in meinem Privatleben. Ich nehme mein Leben wie ein Projekt in Angriff. Ich erstelle eine Liste mit Meilensteinen, die ich erreichen will, um das Projekt „Zurück ins Leben“ erfolgreich abzuschliessen. Erster Meilenstein, ich stell mich meiner Angst, Männer mit meinem Aussehen und meiner Art zu enttäuschen. Ich will mit Steve was trinken gehen. Da ich an ihm als Mann gar nicht interessiert bin, dürfte mich seine Enttäuschung bei meinem Anblick, nicht allzu sehr verletzen. So gesehen, ist er der perfekte erste Onlinetreff. Ich muss und will es hinter mich bringen.
Natürlich hält sich Steve sehr gut an seine Zeit, ich versage schon am dritten Tag. Also muss ich den Kaffee bezahlen. Am Montag darauf wollen wir uns nach Feierabend treffen. Ich bin nicht mal aufgeregt. Bin ganz cool, bin ja auch nicht an ihm interessiert. Ich stelle ihn mir als kleinen, hässlichen Giftzwerg vor, aber mit ihm zu schreiben ist lustig und unterhaltsam.
Als ich am verabredeten Ort auftauche, steht vor mir ein Mann, der besser aussieht als in meiner Vorstellung. Nicht, dass er gut aussieht, weit entfernt von meinem Geschmack, aber ich hab ihn mir schlimmer vorgestellt. Er ist kleiner als ich, blaue Augen, so ein richtig Grüner mit Wuschelfrisur. Es fehlen nur noch die Birkenstöcke an den Füssen, aber ist ja November. Wir unterhalten uns. Besser gesagt, ich rede und rede, er ist sehr schüchtern, still. Das pure Gegenteil von dem giftigen Mann, den er online abgibt. Real kriegt er den Mund kaum auf. Ausserhalb der virtuellen Welt ist er ein Mann, der sich duckt, wenn Frau die Stimme erhebt. Er hatte schon etliche Affären, mit Worten weiss er umzugehen. Warum er sie real trotzdem flachlegen kann, liegt daran, dass es entweder verheiratete, sexuell frustrierte Frauen sind, die endlich wieder erobert werden wollen oder Singlefrauen mit Minderwertigkeitskomplexen oder psychischen Problemen, die alles annehmen, was sich bietet, weil ja keine Alternativen da sind. Er erzählte mir von diesen Frauen, die er im Laufe seiner jahrelangen Chatsucht kennengelernt hat. Allesamt haben eine sehr labile Persönlichkeit.
Читать дальше