Elias kniff die Augen zusammen. Nicht viel Dreck oder Matsch an seinem Zeug. Dafür, dass er eine ganze Weile bei dem Wetter unterwegs sein muss, sieht er aus, als hätte er die Straße nie verlassen. Und heilige Scheiße, der Hund. Am unteren Teil des Mantels, den Stiefeln und der Hose des Mannes konnte er Flecken und Spritzer von Erde und Schlamm sehen. Nicht in den Mengen, die man bei einem Reisenden in dieser Gegend und zu dieser Zeit erwartete, aber immerhin vorhanden. Das mattschwarze, zottige Fell des Hundes schien jedoch völlig sauber zu sein.
Eigentlich, dachte er, müsste sich diese schwere, riesige Töle doch bis zur Brust eingesaut haben. Das Vieh wiegt ganz bestimmt mehr als ich, auch wenn einiges von seiner Masse Fell sein muss.
Er schüttelte leicht den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann. Das war allerdings auch nicht viel besser oder weniger befremdlich. Das blasse Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und wurde fast zur Hälfte von dem dichten, grauen Bart verdeckt. Die Augen waren, wie Elias erkannte, als er der Mann bis auf wenige Schritte herangekommen war, von der allgegenwärtigen Farbe des Himmels, einem dunklen, tiefen Stahlgrau. Das Alter des Fremden zu schätzen war ihm unmöglich. Zwar war das Haar grau und man sah Runzeln gleichermaßen an der Stirn wie an Mund und Augen, aber gleichzeitig wirkte er unglaublich Vital und seine Bewegungen waren die eines unverbrauchten, jungen Mannes. Er konnte ein früh ergrauter Dreißiger sein, ebenso gut wie ein junggebliebener Fünfziger.
»Heda, die Straße ist auf den Befehl des Königs gesperrt«, sagte Elias nun mit fester Stimme. »Ihr könnt hier nicht vorbei und auch sonst nirgendwo in dieser Richtung. Kehrt um und geht dahin, wo ihr hergekommen seid.«
Der Fremde kam keine drei Schritte vor ihnen zum Stehen, der unheimliche Hund blieb zum Glück hinter ihm. Ein vages Lächeln zeichnete sich unter dem Bart ab und in den Augen funkelte etwas, das Belustigung sein mochte. Sein Blick ging rasch in Richtung des Lagers und dann wieder zu den beiden Männern vor ihm.
»Seid gegrüßt, die Herren Soldaten«, sagte er schließlich.
Elias hatte sich auf den Hund konzentriert, wahrlich eine riesige Bestie war das. Die Stimme des Mannes riss ihn jedoch sofort aus seinen Gedanken und schlug ihn in ihren Bann. Sie war unglaublich dunkel, ein wenig rau aber wohlmoduliert und trotz des starken Basses auf gewisse Weise melodiös. Außerdem war sie ebenso alterslos wie der Rest des Fremden. Dreißig? Vierzig? Fünfzig?
»Es ist lange her, dass ich Silvershire besucht habe«, fuhr der Wanderer nun freundlich fort. »Ich war viele Jahre auf Reisen. An einem weit, weit entfernten Ort.«
Elias entspannte die Hand um den Speer, den er umfasst hielt. Er spürte, wie sich Gonzo neben ihm ebenfalls zu entspannen schien. Was immer der Mann hier wollte, es schien keine Gefahr von ihm auszugehen.
»Wenn ihr mir nicht erlaubt, zu passieren, mögt ihr mir vielleicht verraten, was hier geschehen ist?«
Ramon Gonzales, seit langem und für den Rest seines kurzen Lebens nur »Gonzo« genannt, schenkte dem Fremden seine ganze Aufmerksamkeit. Es war viele Jahr her, dass er sich so sehr auf das, was man ihm sagte, hatte konzentrieren können.
Beim letzten Mal war der Sprecher sein Vater gewesen. Damals, als er noch die Geduld und den Ehrgeiz hatte aufbringen können, dem geistig beschränkten Sohn wenigstens die Grundlagen des Lebens beizubringen. Anfangs sogar noch, welch grausamer Scherz, die einfachsten Handgriffe des Schreinerhandwerkes. Der Vater sah freilich irgendwann ein, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Mit den Jahren wichen Zuneigung und Geduld für seinen minderbemittelten Sohn zunächst dem Mitleid und der Verzweiflung. Dem folgten Zorn und Gewalt. Die Jahre der immer heftiger und reichlicher verabreichten Prügel waren Gonzos erbärmlicher Aufnahmebereitschaft nicht unbedingt zuträglich. Das galt ebenso für seine sozialen Fähigkeiten und seine Kontingenz. Eines Tages hatte ihn sein Vater in einem Wutanfall halb totgeschlagen. Nachdem er sich davon erholte hatte, war er den Truppen des Grafen überlassen worden.
Jetzt aber hing er mit Hingabe an den Lippen dieses fremden Wanderers, der so freundlich mit ihnen sprach. Diese Stimme, irgendetwas im Timbre der Worte, weckte alte, lange verschüttete Erinnerungen in seinem Unterbewusstsein. Gefühle, die er niemals bewusst wahrgenommen hatte, an die er sich von selbst nicht hätte erinnern können. Es waren Empfindungen von Wärme und Geborgenheit, von der Zuneigung, die ihm ein alter Mann vor langer Zeit geschenkt hatte. Er wusste nicht, wer dieser Mann war, weil sein Großvater gestorben war, als er noch sehr klein gewesen war. Die ersten drei Lebensjahre hatte sich dieser Großvater um ihn gekümmert. Er hatte dem kleinen Ramon, der damals noch ein sehr stilles, ruhiges Baby und später ein sehr stilles, schüchternes Kleinkind war, viele Geschichten erzählt. Das war Jahre bevor aus Ramon der große, dumme Gonzo wurde. Auch darüber hinaus hatte er sich liebevoll um seinen Schützling gekümmert.
Opa hatte nach einem Unfall den linken Arm verloren und war zu sonst nichts mehr nutze. Der kleine Ramon war die letzte große Freude in seinem Leben gewesen. Er hatte den Jungen, den man damals noch für still und schüchtern hielt, anstatt für verblödet und zurückgeblieben, verwöhnt und umsorgt, wie er nur konnte. Dann aber war Opa krank geworden, hatte viel gehustet und war schließlich gestorben.
Eine einzelne Träne lief über die ungeschlachte Wange des Ramon der Gegenwart, der von einigen Gonzo der Riese, von den meisten jedoch Gonzo der Blöde oder Gonzo der Dummfick genannt wurde.
Elias ahnte nichts von dem Aufruhr, der in dem Kameraden herrschte. Es kümmerte ihn auch nicht, war er doch selbst gebannt von dem Fremden und seiner intensiven Präsenz.
»Silvershire wurde angegriffen«, hörte er sich sagen. »Schon vor einigen Wochen. Waren die Waldlinge und es gab keine Überlebenden. Die Ortschaft gibt es nicht mehr, sie wurde abgerissen, niedergebrannt und geläutert.«
Er schüttelte leicht den Kopf und wunderte sich darüber, warum zum Henker er diesem Mann Auskunft gab. »Es tut mir leid, aber hier darf niemand durch«, wiederholte er erneut, »Auf Befehl des Königs weise ich euch an ...«
»Das zu hören trifft mich zutiefst«, unterbrach ihn der dunkle Singsang der Stimme des Wanderers. Sie klang noch immer freundlich, doch jetzt hatte sie auch einen melancholischen Unterton. »Ich hatte sehr liebe Freunde in Silvershire. Die Nachricht ihres Todes auf so plötzliche Weise zu erhalten ist erschütternd. Es wird doch sicher einen Ort geben, an dem sie bestattet wurden.
Elias, mein Junge, du wirst mich doch zu ihren Gräbern führen, damit ich sie für einen Moment gebührlich betrauern kann, nicht wahr? Und Ramon, mein guter, stiller Ramon, du siehst so schrecklich müde aus, du möchtest doch sicher ein wenig schlafen.«
Er hob mit einer fließenden Bewegung die Hand und machte mit seinen langen Fingern eine spielerisch wirkende Geste.
»Ja, Mon sehr müde ist«, sagte Gonzo mit verträumter Stimme. Er sprach undeutlich und seine Worte klangen kindlich verwaschen. »Mon sehr Müde. Schlafen schön. Danke Opa Riko, Mon müde, Mon geht schlafen.«
Elias sah dem großen, breitgebauten Kameraden teilnahmslos nach, als er mit schlurfenden Schritten zum Wachhäuschen ging. Dieser höfliche, zuvorkommende Fremde hatte einen schrecklichen Verlust erlitten. Es war nur recht und billig, dass er ihn zu den Gräbern seiner Freunde führte, damit er Abschied von ihnen nehmen konnte. Sollte sich der blöde Gonzo doch ausruhen. Er war ohnehin zu kaum etwas gut, und zumindest war dann noch jemand hier. Nicht, dass diese dummen Wachposten überhaupt einen Sinn hatten.
Gonzo ging mit etwas unsicheren Schritten zu dem grob zusammengebauten Verschlag, der den Wachen einen rudimentären Schutz vor der Witterung bot. Er zwängte seinen massigen Leib in eine Ecke und setzte sich auf die raue Holzbank. Tränen liefen jetzt über seine Wangen, aber diesmal waren es Tränen des Glücks. Opa Enriko war gar nicht tot, er war wieder da und sprach mit ihm. Genauso liebevoll und geduldig wie damals, als er drei Jahre alt gewesen war, bevor jeder ihn Idiot und Blödian nannte und bevor sein Vater begonnen hatte, ihn blutig zu prügeln. Er hatte Opa ganz vergessen gehabt, aber nun war er wieder bei ihm.
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